Frederik öffnet mir schwungvoll die Tür, als ich läute. Er ist jetzt achtundsechzig und hat nie diese Aura verloren, die einem auf aufdringlich optimistische Weise vermittelt, die Lage sei unter Kontrolle und es gäbe nicht den geringsten Grund, in den nächsten Stunden nicht noch ein paar bemerkenswerte berufliche oder private Erfolge zu erzielen. Mir ist nicht klar, ob das für Frederik überhaupt unterschiedliche Bereiche sind oder ob sich nicht alles zu einem einzigen großen Schlachtfeld vermischt.
Kein Zweifel, dieser Mensch ist zufrieden mit sich. Ist angekommen in seinem Leben und in seiner Persönlichkeit, kennt das gar nicht, dieses Gefühl des Suchens nach dem richtigen Zustand, dem richtigen Leben, der richtigen Art zu sein. Dieses Gefühl des Nicht-fertig-Seins muss Frederik absolut fremd sein.
Er arbeitet noch immer, natürlich tut er das, obwohl er sich schon längst hätte zur Ruhe setzen können. Er ist einer von denen, die sich in dem sicheren Glauben wiegen, gebraucht zu werden. Von seinen Patienten, von seinen Kollegen, wahrscheinlich von der Institution psychiatrische Klinik an sich, ja wenn nicht sogar von der Psychiatrie als solches. Ich bin mir sicher, dass viele jüngere Kollegen Mühe haben, ihre Ungeduld nicht zu offensichtlich werden zu lassen und schon lange darauf warten, dass die Stelle des leitenden Arztes der Psychiatrie endlich neu besetzt wird, und ich bin mir genau so sicher, dass Frederik diese Ungeduld noch eine ganze Weile ignorieren wird.
„Schön, dass du da bist, Ingrid“, sagt er jetzt und schüttelt mir dabei einen Moment zu lange die Hand. „Deine Mutter ist im Wohnzimmer.“ Und mit etwas gesenkter Stimme fährt er fort: „Und schon beim dritten Glas.“
Ich habe es nie gemocht, wenn Frederik versucht hat, eine Vertrautheit von Verbündeten zwischen uns herzustellen, seine Versuche, sich zu vergewissern, in welcher Position man zu ihm steht, einzuordnen, ob man in den kommenden Stunden Freund oder Feind sein wird.
Als ich das Wohnzimmer betrete, stehen schon einige Gäste locker in Zweier- oder Dreiergruppen im Raum herum. Die Stimmung wirkt ein bisschen unruhig, wie ein leicht betäubter Bienenschwarm schwirren die Gäste durcheinander. Meine Mutter thront vor dem Fenster in einem schweren, braunen Ledersessel und ist die mittlerweile nicht mehr leicht, sondern eindeutig betäubte Königin in einem lässigen, sündhaft teuren Hosenanzug und einer weißen Seidenbluse. Definitiv wird sie die bestangezogene Frau des Abends sein, aber da sie das weiß, ist ihr auch das egal, was wiederum ihre Haltung genauso lässig erscheinen lässt wie ihre Kleidung.
Da Frederik offensichtlich mitgezählt hat, weiß ich, dass das Weißweinglas in ihrer Hand das dritte ist, und da es erst sechs Uhr ist, bietet der Abend noch Raum für einige weitere. Ein bisschen gelangweilt sieht sie aus, wie sie so im Raum herumschaut, aber ich entdecke tatsächlich Freude in ihrem Gesicht, als sie mich jetzt an der Tür stehen sieht. Sie lächelt und prostet mir von der anderen Seite des Zimmers aus zu, und ich bin auf einmal froh, hier zu sein.
Als ich ihr einen Kuss auf die Wange gebe und ihr zum Geburtstag gratuliere, fühlt sich ihre Haut ganz weich an. Sie ist fast gar nicht geschminkt, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen hier. Ich weiß, dass sie das für „albernen Firlefanz“ hält, der je älter man wird, umso unwürdiger aussieht. Trotzdem erstrahlen ihre Lippen und ihre Fingernägel in zwei perfekt aufeinander abgestimmten, warmen, dunklen Rottönen.
Ich sehe Frederik quer durch den Raum auf uns zusteuern, sehe wie meine Mutter langsam die Augen verdreht und mir zuflüstert: „Wenn du deiner Mutter an ihrem Geburtstag einen Gefallen tun willst, hältst du mir den jetzt vom Leib und besorgst mir noch ein Glas.“
Ich finde, dass sie diesen Gefallen auf jeden Fall verdient hat und gehe Frederik entgegen. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass die Schröders, die wie eingefroren vor dem Kamin stehen, gelangweilt und vor allem ohne Getränke in die Gegend starren und organisiere ein weiteres Glas Chardoney für meine Mutter. Mit Weißwein für sie und einem Martini für mich komme ich zu ihr zurück und ernte ein „Gut gemacht“ von ihr.
Die Erinnerung an diesen Sommertag im August vor vierunddreißig Jahren war gerade eben noch auf der Fahrt hierher so präsent und so eindringlich gewesen, dass mir auch jetzt all diese Bilder im Kopf hängen bleiben, wie etwas Zähes, Klebriges, das man beim Versuch es wegzuwischen nur noch schlimmer macht.
Ich frage meine Mutter, ob sie weiß, wo all die alten Sachen von mir abgeblieben sind, die von ganz früher, nicht die aus der Zeit kurz bevor ich hier ausgezogen bin. All diese kleinen Dinge, die man so fest und unauslöschlich mit seiner Kindheit verknüpft hat. Spiele, die man Tag und Nacht hatte spielen wollen, Bücher, bei denen beim Vorlesen niemals der Wortlaut geändert werden durfte, kleine kuschelige Wesen, die jahrelang das Bett mit einem teilten. All das muss irgendwo abgeblieben sein, aber meine Mutter scheint keine rechte Übersicht mehr zu haben, wo sich was in ihrem Haus befindet und schwankt unsicher zwischen den Möglichkeiten Keller, Garage, Dachboden oder altes Kinderzimmer.
„Wozu brauchst du den alten Kram?“, will sie nach einigem Überlegen wissen, und ich erzähle ihr von den Schuhen, die ich früher hatte, die mit den Bienen an den Seiten. Doch meine Mutter sieht mich nur ungläubig an und sagt mir, solche Schuhe hätte ich nie gehabt. Ich will es dabei bewenden lassen und nicht an diesen Sommer vor so vielen Jahren rühren. Die so tief und gründlich vergrabenen Leichen im Keller müssen heute nicht wieder auferstehen.
Also sage ich nur, so wichtig sei es auch nicht und begleite meine Mutter ins Esszimmer, um gemeinsam mit allen anderen, gemeinsam mit noch mehr Chardoney und Martini das Abendessen zu überstehen.
Meine Mutter ist schweigsam beim Essen, Frederik dafür umso gesprächiger. Fast alles, was er sagt, sagt er laut genug, um damit den gesamten Tisch zu unterhalten. So ist das, wenn man gebraucht wird, denke ich, wenn man sogar für die Abendunterhaltung die Verantwortung trägt.
Nach dem Essen zieht man sich wieder ins Wohnzimmer zurück, wechselt die Getränke von Wein zu Kaffee oder auch nicht, und eine seltsame Mischung aus Trägheit und Unruhe breitet sich im Haus aus.
Als ich in der Küche alleine auf Frederik stoße, frage ich ihn, ob er weiß, wo sich meine alten Sachen befinden. Er ist gerade dabei, eine Zitrone in Scheiben zu schneiden, und ich merke, wie das Messer einen winzigen Moment lang ins Stocken gerät, bevor es weiter durch die gelbe Schale schneidet und er mir nur mit der Gegenfrage „Wozu?“ antwortet.
„Ich suche etwas“, sage ich und kriege wieder nur Frederiks Gegenfrage „Und was?“ zu hören. Am liebsten möchte ich ihm sagen, dass ihn das unglaublich wenig angeht, möchte aber auch möglichst beiläufig klingen, so dass die Chance auf eine brauchbare Antwort besteht.
„Ach, ein paar Sachen von früher halt“, sage ich vage, merke aber, wie Frederik das Messer zur Seite legt und mich jetzt unverwandt ansieht. Sein Tonfall ist jetzt kühl und sehr präzise, wie der eines Forschers, der versucht herauszufinden, mit was er es hier zu tun hat.
„Ein paar Sachen von dir sind im Keller, ganz hinten an der Wand in diesen dunklen Kartons, aber es ist bestimmt auch noch was in den Schränken in deinem Zimmer. Ich kann dir suchen helfen, wenn du willst.“ Und dieser Tonfall klingt viel mehr wie eine Feststellung als wie ein Angebot.
„Das ist nicht nötig“, sage ich abwinkend, „lass deine Gäste nicht alleine.“
„Ingrid“, ruft er mit der gleichen Kälte in seiner Stimme, als ich schon in der Tür stehe. „Es ist nicht immer gut, nach Dingen zu suchen, die vergangen sind.“
Dazu habe ich nichts zu sagen. Ich drehe mich um und gehe durch den Flur die Treppe zu meinem alten Kinderzimmer hinauf, in dem ich nicht lange verweilen will und deswegen rasch die paar wenigen Schränke durchsuche, in denen tatsächlich