Im Fahrstuhl bin ich zum Glück allein, denn jetzt beginne ich, wirklich zu zittern, und ich kann nicht anders, als laut und schwer ein- und auszuatmen. Ich schaffe es gerade eben, nicht die Akte aufzuschlagen, meine Akte. Ich konzentriere mich ganz darauf, ohne großartig aufzufallen das Gebäude zu verlassen.
Während ich durch den Haupteingang ins Freie trete und den Weg zum Besucherparkplatz einschlage, gehe ich schneller als ich sollte, denn ich kann es selber kaum glauben, dass es so einfach funktioniert hat, unser zweifelhafter Plan, der gestern Nacht noch gut, aber heute morgen schon sehr viel unwahrscheinlicher gewirkt hatte.
Ich sitze noch einen Moment regungslos hinter dem Steuer meines Autos, bevor ich Frank anrufe und ihm die Nachricht auf die Mailbox spreche, dass ich die Akte tatsächlich gerade in Händen halte und wir uns wie verabredet in seiner Mittagspause bei ihm im Krankenhaus treffen.
In diesem Augenblick fährt ein Auto genau an mir vorbei, und die Frau hinter dem Steuer sieht sich jetzt suchend nach einem freien Parkplatz um, sieht dabei aber nicht direkt zu mir hin.
Paula, schießt es mir sofort durch den Kopf, und ich fühle mich genau so wie vor zwei Nächten im Garten hinter dem Haus, fasziniert und schockiert.
Ich blicke dem Auto hinterher, starte den Motor, fahre aus der Parklücke und im Schritttempo hinter ihrem Wagen her. Ganz am Ende des Parkplatzes setzt sie den Wagen ungeschickt in eine Parklücke und steigt aus.
Ich beobachte, wie sie zum hinteren Ende des Parkplatzes geht, wo dieser von einer großen Hecke umsäumt wird. Sie zündet sich eine Zigarette an und wartet einen Moment, bevor jetzt auch Frederik ins Sichtfeld tritt, von der anderen Seite kommend, die näher zum Hauptgebäude liegt.
Sie unterhalten sich nur kurz. Ich sehe Frederik wild gestikulieren, bevor er kurz danach entschlossen und schnell den Parkplatz verlässt und auf den Haupteingang zugeht.
Ich setze schnell zurück, da ich auf jeden Fall vermeiden will, dass mich Paula auf dem Rückweg zu ihrem Auto sieht, und verlasse gleich den Parkplatz Richtung Ausfahrt.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Irgendetwas sträubt sich in mir, alleine, ohne Frank, in die Akte zu sehen, und ich erkenne auf einmal, dass es Angst ist. Eine ganz tiefe, dunkle Angst, bei der man, wie bei einem unbekannten Gewässer, nicht sehen kann, wie tief es ist und wie dunkel es dort unten werden kann. Eine Angst, die keine klaren Grenzen hat, nichts was man greifen und ans Licht zerren kann, weil diese Angst viel größer ist, viel umfassender, weil sie alles mit einschließt und angreift was ich bin.
Pünktlich um 12.30 Uhr bin ich bei Frank im Krankenhaus. Dieses seltsame Krankenhaus, wo eigentlich niemand hin will und was trotzdem immer voller Patienten ist.
Vorfälle hatte es hier gegeben, irgendwann Ende der achtziger Jahre. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, aber ich weiß noch, dass es Schlagzeilen gegeben hatte. „Todesschwestern“ hatte man sie genannt. Ich glaube, nun ist hier schon lange nichts mehr passiert, aber diese Schwestern verfolgen wie böswillige Gespenster den Ruf des Krankenhauses.
Ich war kurz zuhause, um mich wieder umzuziehen und bringe Frank seinen Kittel und seine Hose in einem Beutel wieder mit. Die Akte steckt sicher in meiner Tasche.
„Komm“, sagt Frank sofort, als er mich sieht. „Wir nehmen uns einen Kaffee mit und gehen in mein Büro.“
Der Kaffee ist gut, schwarz und heiß.
„Hier“, sage ich und reiche Frank die Akte. „Ich habe noch nicht hineingesehen.“
Frank öffnet die Akte und schaut sich ruhig und minutenlang alle Seiten an. Ich bin nervös, stelle mich mit meinem Kaffee ans Fenster und sehe hinaus auf den Krankenhauspark. Schön ist es hier eigentlich.
„Es ist verblüffend“, sagt Frank schließlich, ohne von der Akte aufzublicken. „Hier ist alles genau dokumentiert, alles, bis auf den Inhalt eurer Sitzungen. Hier steht jede einzelne Sitzung mit Datum und Uhrzeit. Die gesamte Vorgeschichte der Therapie ist sorgfältig zusammengefasst. Hier steht sogar, wann du von der Polizei und wann von deiner Mutter gebracht und abgeholt wurdest. Nur worüber ihr gesprochen habt und mit welchem Ergebnis ist nirgends verzeichnet.“
„Was soll das heißen?“, frage ich.
„Das soll heißen, dass deine Therapiesitzungen bei Frederik wie eine Art Vakuum sind, in dem alles Mögliche hätte passiert sein können, ohne dass man es jemals rekonstruieren kann.“
Genauso wie beim ersten Mal war ich mir auch heute auf dem Klinikparkplatz absolut sicher, dass diese Frau Paula ist. Meine Gedanken schießen in verschiedene Richtungen gleichzeitig, und ich versuche, die einzelnen Fäden zu fassen zu kriegen und zu entwirren.
Wenn Paula lebt, weiß sie vielleicht, wo mein Vater ist, falls auch er noch leben sollte. Ich frage mich, wie lange meine Mutter und Frederik schon wissen, dass Paula noch lebt; ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vorgestern Abend einfach so bei ihnen hineinspaziert ist. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber irgendetwas an der Szene wirkte nicht so als hätten sie gerade eben erst diese schockierende Entdeckung gemacht. Wenn sie jedoch beide schon seit Längerem wissen, dass Paula noch lebt, und mir nicht das Geringste davon mitgeteilt haben, dürfte klar sein, dass irgendetwas an dieser ganzen Geschichte absolut nicht stimmt, dass es gute Gründe gibt, Dinge zu verheimlichen, mir gegenüber und der Polizei gegenüber.
Wenn Paula heute auf dem Klinikparkplatz aufgetaucht ist, war sie vielleicht schon öfter bei Frederik in der Klinik. Auf jeden Fall ist sicher, dass unter normalen Umständen weder ich noch meine Mutter dort anzutreffen wären, und wie gut man in der anonymen Masse dieses Termitenhügels untergehen kann, habe ich heute selbst gesehen.
Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, genau das herauszufinden. Vielleicht gibt es eine Person, die sich erinnern würde und auf deren Verschwiegenheit ich mich verlassen könnte.
Mit all diesen Gedanken im Kopf fahre ich nach Hause und weiß dort mit mir nichts anzufangen. Frederik, die Therapiestunden bei ihm, meine Erinnerung, die tote Paula auf dem Wohnzimmerteppich, die lebende Paula auf dem Parkplatz. Mir ist als hätte ich einen Fremdkörper im Kopf, einen Tumor im Gehirn, etwas, was dort nicht hingehört, was nicht meins ist, was fremde Hände zusammengebaut haben, was sich ein fremder Kopf ausgedacht hat. Aber dieses Etwas sitzt fest, lässt sich nicht entfernen. Ich würde es gerne herausreißen aus meinem Kopf, wenn es sich nicht behutsam herausschneiden ließe, unter eine große, helle Lampe legen und ganz genau betrachten. Herausfinden, was es ist, was da drin ist und was ich ohne es bin.
Ich bewege mich im Kreis, räumlich und gedanklich. Ich denke immer wieder die gleichen Gedanken, ohne damit an irgendein Ziel zu kommen, und laufe dabei nervöse Bahnen durch meine Wohnung. Wie ein Tier, denke ich, beeinflussbar, manipulierbar, unwissend. Auch die Affen in den Versuchslaboren wissen nichts von ihrem tatsächlichen Zustand, fühlen sich schlecht oder gut, haben Hunger oder Schmerzen, aber wissen nicht, dass da etwas in ihrem Kopf ist, was sie all das fühlen lässt, was sie ängstlich sein lässt und beherrschbar. Sie wissen nicht, dass da etwas ist, was da eigentlich nicht hingehört, und wissen nicht, was und wie sie ohne dieses Etwas wären.
Stunden vergehen so mit diesem Hin und Her, bis es draußen schon längst dunkel geworden ist und ich diese Untätigkeit nicht mehr aushalte.
Ich suche den Karton mit den alten Zeitungsausschnitten von damals heraus und stecke ein Bild von Paula in eine Klarsichthülle. Wie jung sie damals aussah und wie hübsch, eine attraktive Frau. Ich stecke das Bild zusammen mit einem aktuellen Kalender und meinem Kalender vom letzten Jahr in die Tasche und verlasse das Haus.
Auf dem Weg halte ich an einem gigantisch großen Spielzeugladen und kaufe ein tausendteiliges Puzzle auf dem nichts als tropischer Regenwald in satten Grüntönen zu sehen ist.
Während ich zum zweiten Mal an diesem Tag vor der Klinik parke, ist es bereits spät, spät genug, um sicher sein zu können, dass Frederik schon längst auf dem Heimweg ist. Als ich an der Tür zur geschlossenen Abteilung läute, stelle ich erleichtert, aber auch überrascht fest, dass mir der gleiche behäbige