„Guten Morgen, Schatz!", sagte mein Vater, als er mich sah.
„Ach, hallo Sophie! Du bist ja schon wach", fügte meine Mutter überrascht hinzu.
„Guten Morgen, Ihr Beiden", sagte ich und setzte mich auf meinen Stammplatz, von dem ich aus dem Fenster schauen konnte. Wurde ich gerügt, als ich noch klein war, hatte ich meinen Blick immer aus dem Fenster in die Freiheit schweifen lassen. In letzter Zeit allerdings verstand ich mich mit meinen Eltern viel besser. Vielleicht lag es daran, dass ich älter wurde, etwas vernünftiger, aber vielleicht lag es auch an meinen Eltern, die umgänglicher wurden und anfingen, mir zu vertrauen. Ein Vertrauensvorschuss verpflichtet, ihm gerecht zu werden. Vielleicht hatten sie das in einem Elternratgeber gelesen. Zumindest schien es zu funktionieren. Ich hatte viel Freiheit, die ich nun selbst einschränken musste. Ob das Verhältnis zu meinen Gasteltern in Neuseeland genauso reibungslos funktionieren würde? Ob sie mich am Wochenende lange ausgehen lassen würden? Hier in Frankfurt war ich es gewohnt, erst um fünf oder sechs Uhr morgens nach Hause zu kommen, nachdem ich lange in den Clubs gefeiert hatte. Ich war ja immerhin schon 17 Jahre alt. Für meine Eltern war es auch kein Problem, wenn mein Freund bei mir übernachtete. Als ich noch einen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Meine Mutter stellte die weich gekochten Eier auf den Tisch und setzte sich zu mir und meinem Vater.
„Iss dich an den Brötchen satt. In Neuseeland gibt es kein gutes Brot. Zumindest kein Dunkles. Es gibt nur Toastbrot und fluffiges Weißbrot. Du wirst dich schnell nach unserem schönen Brot sehnen".
Mein Vater war öfters geschäftlich in Neuseeland unterwegs. Bei einer dieser Geschäftsreisen hatte er meinen Gastvater Volker, einen ausgewanderten Deutschen, kennengelernt. Die beiden verstanden sich sehr gut und trafen sich immer wieder auf Geschäftsreisen in Neuseeland oder in Deutschland. Irgendwann kam mir die fixe Idee, ein Auslandsjahr zu machen. Ich wollte weg aus Frankfurt. Etwas Neues erleben, neue Leute kennen lernen. Es kamen die USA, Kanada, Australien oder Neuseeland in Frage. Da mein Vater die Familie meines Gastvaters gut kannte und es ihm lieber war, wenn seine Tochter bei Bekannten unterkam als bei Fremden, organisierte er meinen Aufenthalt bei meinem Gastvater in Neuseeland. Für mich war dieses Land zuerst das „Ende der Welt“. Klar, alle sprachen Englisch und das war die Begründung für meinen Wunsch, ins Ausland zu gehen. Insofern konnte ich mich nicht dagegen wehren, ausgerechnet am anderen Ende der Welt ein Schuljahr zu verbringen. So wie mein Vater von Neuseeland schwärmte, würde ich es doch nicht schlecht treffen. Er zeigte mir Fotos, Fernsehdokus und ich surfte im Internet, um mehr über dieses Land und seine Bewohner herauszufinden. Irgendwann steckte er mich mit seiner Begeisterung an und ich willigte ein. An meiner Schule hatten bereits viele Schüler Auslandsjahre absolviert. Insofern war es kein Problem, dass auch ich ein Jahr lang weg sein würde. Die Schulen in Neuseeland haben einen sehr guten Ruf, die Lehrinhalte sind vergleichbar. Ich müsste bestimmte Kurse besuchen und dann könnte ich, ohne ein Jahr zu verlieren, hier in Frankfurt das Abitur machen.
Nun war es mein letztes Frühstück zusammen mit meiner Familie. Ich biss in mein Kürbiskernbrötchen, das ich mit Leberwurst bestrichen hatte. Das wird es tatsächlich ein Jahr lang nicht geben. Ich versuchte mir den Geschmack einzuprägen. Dann nahm ich eine Brezel aus dem Brotkorb und bestrich sie mit Butter. Brezeln wird es in Neuseeland auch nicht geben. Ich genoss alles, was auf dem Tisch lag. Selbst den Kaffeegeschmack versuchte ich so lange wie möglich auszukosten. Vielleicht trinkt man in Neuseeland nur Instant-Kaffee. Ich schaute meine Eltern an. Auch sie würde ich ein Jahr lang nicht sehen. Das Gesicht meiner Mutter mit den zarten Falten um die Augen und die muskulösen Hände meines Vaters. Er würde mich ein Jahr lang nicht in die Wange kneifen, wie er es immer tat. Ich lächelte meine Eltern an und sagte: "Es wird schon gut gehen."
„Aber natürlich. Sonst verfolge ich Volker bis zu seinem Lebensende“, lächelte mein Vater verschmitzt.
„Ach, Papa“, rollte ich mit den Augen.
„Ich geh jetzt noch kurz ins Internet. Dann können wir alles ins Auto packen und losfahren.“ Ich stand auf und strich meiner Mutter über die Wange.
„Bis gleich, Schatz.“ Wenn sie traurig war, dann ließ sie es sich heute gewiss nicht anmerken. Sie kann sich immer so gut beherrschen. Ich dagegen bin eher der emotionale Typ, wie mein Vater.
Ich loggte mich bei Facebook ein und postete auf meiner Wand: „auf zum ende der welt!“ Zwei meiner Freunde waren auch eingeloggt. Als sie sahen, dass ich auch online war, wünschten sie mir einen guten Flug. Ich hatte einen Kloß im Hals. Beim Telefonieren hätte man es mir angemerkt, aber beim Chatten nicht.
Ich schrieb: „ich hab einen kloß im hals.“
Und: