Meine Stimmung ist zum Bersten gespannt. Meine Euphorie geht schon jetzt fast mit mir durch. Ich kenne Ostberlin bisher nur Unter den Linden entlang bis zum Alexanderplatz. Dabei stehe ich gerade in der Warteschlange vor dem Grenzposten. Wie mag es drüben aussehen, hat sich dreißig Jahre nichts verändert? Zu beiden Seiten des Brandenburger Tores ist die Mauer ganz durchschlagen und Grenzposten kontrollieren die Pässe. "The same procedure ...". Aber es geht flott, ohne diese gewohnte Schikane. Ich habe es auch nicht so eilig. Und dann sehe ich den Todesstreifen zu beiden Seiten in seiner unerhörten Breite. Ein Wahnsinn! Was hier bloß zu welchem Schutze errichtet wurde. Ich stehe hier auf einem Gebiet, das für Jedermann dreißig lange Jahre tabu gewesen ist. Ich muß unwillkürlich an die Momente denken, als ich Mitte der 80iger zweimal in Berlin war und jedesmal ein Blick auf die andere Seite riskierte. Ich weiß gar nicht mal mehr genau ob ich mir nicht auch ein Tagesvisum hätte besorgen können. Auf jeden Fall, bei dem Einblick in diese andere Lebensrealität im Osten habe ich wirklich überlegt, ob ich nicht vielleicht eine Macke bekommen hätte wenn ich auf der anderen Seite der Mauer gewohnt hätte. Klar, so kann man nur als Wessi denken. Ich, der da im Westen über die Mauer spähte und die Menschen auf der anderen bestaunte. Was war das doch für ein kurioses Gefühlserlebnis, die Menschen da drüben, keine 200m von mir entfernt, in ihrem ganz alltäglichen Tagesablauf zu beobachten. Kam mir fast der Vergleich mit dem Warschauer Getto, das ich in Dokumentationen gesehen habe. Natürlich hinkt der direkte Vergleich in vielerlei Hinsicht, aber diese klaustrophobische Atmosphäre empfand ich schon sehr ähnlich. Hat sicherlich auch was mit dem vielen Grau und der alten Architektur zu tun. Und, na ja, auch irgendwie eingesperrt alles hier. Und die Trabis und Wartburgs, die auch wiederum was von einer Filmkulisse hatten. Auf jeden Fall eine irgendwie irritierende Art der Wahrnehmung des Ganzen überfiel mich damals. Ich konnte nicht mal eben da hin rennen, sie waren für mich in diesem Moment unerreichbar. Da lief direkt ein Film vor mir ab, aber der war gespenstig real. Da gingen vereinzelt Menschen mit ihren Einkaufstaschen entlang, ein Trabi bog von einer in eine andere Straße, und das alles in diesen düsteren Grautönen wie kurz nach dem Krieg. Ich konnte mir gut vorstellen gerade einer Filmeinstellung in einem Filmstudio beizuwohnen. Da muß man doch mit der Zeit einen Koller bekommen, dachte ich damals überheblicher Weise. Wenn ich da jetzt so die Vögel beobachtete, wie sie mal locker von Ost nach West fliegen, dann kommt mir doch sofort der Gedanke wie plemm-plemm wir Menschen doch eigentlich sind. Die vielen menschlichen Schicksale die damit verbunden sind, macht das alles noch mal komplexer als ich das mit meiner banalen Aussage überhaupt vermitteln kann. Die andere Seite der Stadt geriet unter das Joch eines System, das statt Freiheit und Wohlstand Bevormundung und Mangel brachte. Ich frage mich gerade, wie die Mauerschützen sich heute fühlen, flüchten sie sich in Ausreden gar nicht anders gehandelt haben zu können, weil sonst sie bestraft worden wären. Nun, dafür ein Menschenleben zu opfern beweist nicht gerade viel Rückgrat. Aber wenn man nicht selbst in so einer Situation steckt ist es immer leicht zu urteilen. Klar ist, auf beiden Seiten der Grenze gibt es solche und solche. Und nun sehe ich die Prachtstraße „Unter den Linden“direkt vor mir. „Unter den Linden“ galt als eine der schönsten Straßen Europas die jeder einmal gelustwandelt haben sollte habe ich gelesen. 1390 m benötigt man dafür – eigentlich wollte ich sagen, 4170 Schritte benötigt man vom Brandenburger Tor bis zur Schloßbrücke. Aber ob nun jeder, ob Mann oder Frau, einen Schritt von genau 33,33 cm tut, bezweifle ich dann doch ein wenig. Aber ursprünglich sind es nicht nur Lindenbäume gewesen, in gleicher Anzahl sollen es auch Nußbäume gewesen sein. Einiges an dieser Straße ist aber eindeutig zu streng sachlich geraten – beispielsweise der Palast der Republik. Trotzdem, West-Berlin wirkt hiergegen eher wie eine Vorstadt ohne Baudenkmäler. Die Menschen um mich herum nehme ich gerade nicht wahr. Es ist grandios, um mal ein anderes Wort zu gebrauchen, hier auf einer Breite von 60 Metern zu schlendern. Meine Gefühle in diesem Moment kann ich selbst nicht in Worte fassen. Es ist alles irgendwie überdimensional und irgendwie auch nicht real. Alles so gewaltig groß und weit. Ich gehe langsam,
Автор: | Jörg Nitzsche |
Издательство: | Bookwire |
Серия: | |
Жанр произведения: | Языкознание |
Год издания: | 0 |
isbn: | 9783738020779 |
ich halbnackt von ihr gemacht habe habe ich bei mir. Wie schon erwähnt ist die Transit-Strecke Hamburg-Berlin furchtbar langweilig, aber dazu noch diese blöde 100-Stundenkilometer-Begrenzung. Und Radarfallen stehen mindestens eine zwischen 2 Ausfahrten auf der ganzen Strecke bereit. Die holen sich die Devisen jetzt auf diese Weise, Umtauschen brauchen wir ja nicht mehr. Doch ausgerechnet die entgegen kommenden Ostdeutschen zeigten sich da sehr fair, in dem sie mit Lichthupe signalisieren, daß da was in dergestalt kommen muß. Sofort bin ich mit dem Tempo runter. Wow, gerade noch mal davon gekommen. Da ich immer Führerschein und Fahrzeugschein vergesse, wäre ich vielleicht in eine ganz blöde Situation geschlittert. Verzichte ich gerne drauf. Viele kleine Dörfer links und rechts der Strecke, und auch immer wieder diese typischen Betonklötze zum Wohnen. Phantasielos hin geklatscht, aber dann kommt mir beim öden Cruisen der geniale Gedanke ob das nicht auch eine Spitzfindigkeit des Zentralkomitees gewesen sein könnte, ob man nicht die Phantasie der Bürger mit diesen Prachtbauten anregen wollte. Auf diesen blöden Gedanken ist bestimmt noch keiner außer mir gekommen. Bestimmt ist so in Sachen Kreativität einiges anders dort drüben und so ich auch Anderes als bei uns entstanden. Mit Sicherheit friemeln die Menschen an Sachen herum, mit denen sich bei uns keiner mehr abgibt. Die Kunst hat bestimmt Formen ihres Lebens angenommen, sind Ausdruck ihrer Schreie nach Freiheit und individuellem Denken und Reisefreiheit. An den Brücken sehe ich Werbeschilder von VEB-Betrieben, die dreißig Jahre durch Subventionen am Leben erhalten wurden. Ich frage mich unwillkürlich, wofür diese Schilder? Der DDR-Bürger hatte doch sowieso nie nichts kaufen können, also für uns, hmmm??? Und trotzdem bewirken diese Schilder, direkt farblos sind sie zwar nicht, Assoziationen des grauen DDR-Alltags. Und so geht meine Fahrt weiter. Abzweigungen nach Schwerin, Abzweigung nach Ludwigslust. Ich würde schon gerne mal kurz abbiegen, aber Berlin lockt. In Berlin zum Brandenburger zu kommen ist auch nicht gerade einfach. Ist blöd ausgeschildert. Endlich bin ich in der Straße des 17. Junis und sehe die Menschenmassen. Da kann ich mir ein Bild machen was hier Sylvester abgegangen sein muß. An einen Parkplatz ist überhaupt nicht zu denken, so parke ich noch vor der Bahnunterführung. Als ich aussteige, fühle ich mich wie gelähmt. Ich hatte während der Fahrt solche Rückenschmerzen bekommen, das ist nun das Resultat. Ich brauche ein paar hundert Meter, bis ich mich wieder in aufrechter Lage befinde. Das Brandenburger Tor, ich kann es sehen, es ist schon ein überwältigendes Gefühl davor zu stehen. An die ganzen Dokumentationen übers Kriegsgeschehen muß ich denken und an den Mauerbau. Ich erinnere mich auch an mein letztes Mal vor Jahren hier in Berlin, wo ich rüber schauen konnte, und dachte, was sind das da für Menschen drüben. Was für ein komisches Gefühl die Menschen auf der anderen Seite keine 200m von mir entfernt ganz normal in ihrem Alltagstrott bewegen zu sehen und Du kannst nicht zu ihnen hin, und sie nicht zu Dir. Erschreckend unwirklich und faszinierend zugleich. Das Geschehnis damals mit Worten zu beschreiben, das plätscherte an jedem Zuhörer einfach vorbei, haben die meisten einfach so abgeschüttelt. Schon komisch, das interessierte kaum jemanden, nahm jeder einfach so hin. Das ist vielmehr ein Gefühl, daß man selbst live erlebt haben muß, denke ich, um es zu verstehen. Aber es braucht vielleicht auch eine spezielle Sensibilität um sich in solche unwirkliche Situationen hinein fühlen zu können. Unter den Linden, wie beschaulich mag das noch bis kurz vor der Wende hier gewesen sein. Ost-Berlin gefällt mir irgendwie besser als West-Berlin. Ost-Berlin hat, und das ist verrückterweise dem DDR-Regime geschuldet, ein sehr reizvolles und abwechslungsreiches Stadtbild. Nun gut, über abwechslungsreich und reizvoll kann man natürlich streiten. Aber wo gibt es schon Prunkbauten und Museumsinsel, historische Stadthäuser, Plattenbauten und Trümmerlandschaften auf so einem überschaubarem Areal. Jetzt brummt das Leben rund um den Alex sehr intensiv. Das mag man oder eben auch nicht. Muß mir unbedingt auch ein Stück Mauergestein besorgen fällt mir bei dieser Hämmerorgie ein. Hier herrscht eine Euphorie als hätte einer Mondgestein anzubieten. Die Mauer steht noch, allerdings schon überall leicht angeschlagen. Hier wird gehämmert was die Mauer hergibt. Schon von weitem höre ich die Klopperei der Mauerspechte. Las ich nicht mal was von Asbest? Nur mal so nebenbei: Nach der Preußischen Niederlage 1806 beim Kampf um Jena-Auerstedt wurde die Quadriga von Napoléon nach Paris verschleppt. Nach seiner Niederlage 1814 brachten Blüchers Truppen die Quadriga zurück nach Berlin. Dies wird im Berliner Volksmund Retourkutsche genannt. Die Nazis wiederum verwendeten das Tor als Parteisymbol. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, wurde es Teil der Russischen Zone und später schließlich das Symbol der Deutschen Wiedervereinigung am 9. November 1989, als Ost- und Westberliner gemeinsam auf und vor dem Tor feierten.