zu erkunden. Wer kennt nicht das Kaufhaus Karstadt. Aber das 1881 hier in Wismar die Geburtsstunde des großen Warenhauskonzerns gewesen ist wissen wahrscheinlich nur wenige. Ich erfahre viel von Bernd. Wirklich Ungewöhnlich, wie gut er über solche geschichtlichen Dinge bescheid weiß, aber ich muß plötzlich mal ziemlich dringend. Hier mitten auf dem Marktplatz wäre ich vom Nebel wahrscheinlich auch geschützt aber wer weiß vielleicht können die Menschen hier durch den Nebel durch schauen. Meine erste eigene Erfahrung mit einem ostdeutschen Restaurationsbetrieb und steht bevor. Plötzlich stehen wir vor einem Bau, das soll ein Restaurant sein? Keine Beleuchtung, nichts was darauf hinweisen würde. Komische Atmosphäre schon im Vorraum. Merkwürdig das hier mit der Jackenabgabe. Muß ich die jetzt abgeben? Bernd wirkt unbeholfen, als gehe er das erste Mal in ein Restaurant. "Das ist bei uns immer ein bißchen anders", entgegnet er auf meinen merkwürdigen Blick. Er war also doch schon einmal hier. Ich reagiere nicht und behalte meine Jacke einfach an. In solchen Situationen kommt die westliche Überheblichkeit durch. Ich verstehe nur Bahnhof, und finde alles etwas unsinnig. Besonders diese blöde Warterei, obwohl viele Tische frei sind, ist mir total fremd. Warten wir also, bis einer dieser schwerfälligen Kellner angeschlürft kommt um uns gnädiger Weise einen Sitzplatz zuzuweisen. Es kommt aber keiner. So taste ich mich vorsichtig zu einem freien Tisch. Von sechs Tischen sind zwei besetzt. Bernd hinter mir her, weitaus vorsichtiger als. Nun sind drei Tische besetzt. Ein Kellner und zwei Kellnerinnen sind dementsprechend im Streß. Die schmucklose Einrichtung, die dreckigen Tischdecken, der Anblick der Kellner. Erinnerte mich doch irgendwoher, nur woher? Lange brauch ich nicht zu überlegen, stimmt, Bulgarien war das. Bernd und ich spielen das Ossi-Wessi-Spiel. Zwei westdeutsche Pärchen werden ausgewiesen. Die haben's wie wir gemacht. Mit Blick auf uns flüsterte der eine Kellner dem anderen etwas zu. Wahrscheinlich: "hast du die da hingesetzt?" Innerlich muß ich schon irgendwie grinsen, so eine abnormale Atmosphäre ist einfach nur lächerlich. Ich denke schon, das war's. Aber es stört sie dann wohl doch nicht, oder wir haben die Standartwartezeit überschritten, und hatten somit Bleiberecht. Ich denke dieses Gebaren im Restaurant wie diesem hier, das sind noch alte Sitten aus der wilhelminische Zeit die hier überlebt haben. Während sich bei uns durch die freie Marktwirtschaft alles immer mehr nach dem Gast ausgerichtet hat, ist hier der Gast höchstens geduldet. Woran erkennt man uns Wessis eigentlich? Ein einzelner Herr kommt herein, und Bernd identifizierte ihn sofort als Wessi. Der junge Mann setzt sich an unseren Tisch. Scheiße, denke ich, hat man wieder keine Ruhe. Aber irgendwie kamen wir gut ins Gespräch und redeten wie wild über die Mißstände in der DDR, ein zur Zeit beliebtes Thema. Ich glaube, nur in den sozialistischen Staaten reden die Bürger so negativ über ihren eigenen Staat. Ich frage unseren Nachbar sogleich, ob er Wessi oder Ossi ist. Bernd hat recht. Er kommt aus Scharbeutz. Er hatte aus gleichen Ansätzen heraus Wismar besuchen wollen wie ich, bzw. wußte an sich auch nicht genau, wohin er wollte. Es gibt also noch mehr Beknackte, kann ich mich beruhigen. Unser Gesprächsstoff kam irgendwann mal wieder beim Thema Frauen an. Wir fragen Bernd über das Leben aus, wie es früher gewesen ist. Man hat eben das beste draus gemacht, ist einer seiner Standartsätze. Kann ich verstehen, Bernd ist jedes zweite Wochenende zu Hause. Ansonsten rötelt er auf dem Bau, momentan in Rostock. Baggerfahrer ist er. Nachdem wir alle aufgegessen haben, bezahlt Bernd für uns beide mit, bekam es hinterher in Westmark zurück. Ich hätte noch ein Essen verdrücken können, aber nachher spucken sie mir vielleicht noch rein. Trinkgeld gab es nicht's. Wieso auch? Rainer, so unser neuer Bekannter macht gerade seinen LKW-Führerschein in Norderstedt. Immer diese Zufälle. Ach ja, ich vergaß zu sagen, daß ich ja aus Norderstedt komme. Wir geistern noch ein bißchen durch die Straßen. Aber diese für mich faszinierende Atmosphäre geht bei drei Leuten verloren. Wieder kommen wir an der Stasizentrale vorbei. Ich muß wieder über diesen Antennenwald auf dem Dach staunen. Einen Kneipengang wollten wir uns noch gönnen. In der Nähe von Bernd's Wohnsiedlung soll es sein, für mich auch ein guter Ausgangspunkt in Richtung Heimat. Doch so was wie Kneipen kennen die hier gar nicht. Wo wir letztlich hingehen, das ist so eine Bruchbude wie in etwa das Restaurant vorher, nur noch etwas schmuckloser. Wie in einer Garage. Das kann wirklich auch nur Bernd wissen, daß das hier eine Gaststube sein soll. Es ist im ersten Stock eines Wohnhauses drin. Von außen ist nichts zu erkennen was auf eine Kneipe oder Bar schließen ließe. Wenn die Wände mal Farbe hatten dann ist die jetzt jedenfalls verschwunden. Dazu seit Jahrzehnten von Zigarettenrauch überdeckt, der Atemluft und wer weiß was an Abgasen von draußen hier Einlaß erhielt. Die Tischdecken abgewetzt, aber man kann sich an alles gewöhnen. Was soll's, denke ich, Bier trinken kann ich überall, Hauptsache die Leute stimmen. Es macht Spaß die Gäste zu beobachten. Die Kellnerin schmuddelig wie in einer ollen St.Pauli-Kneipe, in einer der hintersten Seitenstraßen. AIle benehmen sich hier sehr vorsichtig und ruhig, auch die Halbstarken. Kein lautes Wort, man müßte schon Stasi-Ohren haben, um mitlauschen zu können. Ich stelle mir den Unterhaltungsraum in einem Gefängnis vor. Mit dem Unterschied, daß das hier freie Menschen sind. Wirklich frei? Das können wohl nur sie selbst beantworten. Gegen halb neun brechen wir dann endgültig auf. Uns erwartet ein Kälteschock, mühsam recke ich meine Gräten zurecht. Tief Durchatmen unterlasse ich lieber. Ich kann die Rußpartikel direkt in den Händen zerreiben, meine Lunge würde sich mit einem Hustenanfall bedanken. Hinter uns das etwa achtstöckige Wohnhaus, in dem auch unser Lokal steckt. Gerne würde ich noch einmal von ganz oben auf die Dächer Wismars blicken. Mein Entdeckerinstinkt stemmt sich noch ein letztes Mal gegen den endgültigen Abschied, denn dieses gespenstige Licht- und Schattenspiel lädt regelrecht dazu ein. Frauen bei uns würden sich hier nicht auf die Straße wagen. Ein paar Jugendliche kommen aus dem Nichts, hatten sich im Hauseingang von der Kälte erholt, um in dem vor uns liegenden Hauseingang zu verschwinden. Da müssen auch wir rein. Kaum über die Schwelle getreten verschwinden dann auch wir im absoluten Nichts. Unheimlich ist mir zumute, zu Tote erschrecken würde ich mich jetzt, hörte ich irgendwo Geräusche. Stockfinster ist es, den Weg nach oben versuchen wir zu ertasten, oder einen Lichtschalter, falls es den überhaupt gibt und er dann auch funktioniert. Upps, wenn das hier einer sein soll, dann ist das Licht im Eimer. Schade, müssen wir das Abenteuer leider abbrechen. Auf unseren Autodächern schreiben wir unsere Adressen auf. Fällt uns ja recht früh ein. So bleibt uns wenigstens ein letzter Small-talk, auch ganz nett. Rainer will mich vielleicht mal besuchen, Bernd mir schreiben, und ab geht es. Noch ein kleines Hupkonzert, Rainer fährt hinter mir her. Bernd ist wieder allein in seiner Welt, in der noch alles beim Alten ist und Neues noch nicht in Sicht. Vielleicht haben wir ein bißchen Farbe in sein Leben gebracht, jetzt verschwinden wir wieder in die Dunkelheit. Unsere Scheinwerfer verfangen sich in den Alleen und bilden ein Tunnelgewölbe aus den von unseren Lichtkegeln angestrahlten Ästen. Sieht fantastisch aus, fotografieren kommt mir in den Sinn, weiß aber nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Erst kurz vor der Grenze treffen wir auf weitere Westbesucher, wieder diese nervigen Grenzformalitäten. Im Bundesgebiet halten wir beide noch einmal kurz an der Seite und verabschieden uns für immer. Mit meinem Kupplungsschaden stehe ich zwar Ängste aus, schaffe es aber doch ohne weitere Vorkommnisse nach Norderstedt. Am nächsten Morgen bin ich gleich zur Ford-Werkstatt. Muß aber glücklicherweise nur etwas zurechtgebogen werden. Mein nächster Trip ist schon geplant und soll nach Ostberlin gehen. Ich bin schon richtig in Entdeckerlaune, mal sehen ob ich Karin in Ostberlin ausfindig mache.
Endlich auf nach Ost-Berlin
Schon wenige Tage später, am Donnerstag, breche ich dann endlich wieder nach Ost-Berlin auf. Die Transitstrecke Hamburg – Berlin ist über alle Maßen todlangweilig und ich habe Zeit meinen Gedankengängen ausgesprochen weitschweifig zu folgen. Ich muß an meine vielen Bekanntschaften denken, die in der ganzen DDR verteilt sind und die für mich so was wie einen Indikator für ostdeutsche Kultur darstellen. Mit ihnen will ich das andere Deutschland kennen lernen. Ich freue ich mich auch schon auf die Begegnungen. Menschen, die so viel anders sein müssen als wir, die anders denken, anders arbeiten, anders leben und andere Träume haben. Oder? Ich überlege, wie z.B. das Wetter, die Landschaften und die Arbeitsverhältnisse bestimmte Charaktere hervorbringen können. Die Mecklenburger sind bestimmt ganz andere Typen als die Sachsen, und ich überlege wie sie sich wohl unterscheiden. Oder, genau das möchte ich doch heraus finden, sind die Unterschiede unter diesem sozialistischen Schatten gar nicht so groß. Und jetzt in Ostberlin beginne ich endlich damit meine Idee zu verwirklichen, und Petra aus Bulgarien ausfindig machen. Und somit ist auch die Gaststätte „Gastmahl des Meeres“ ein Anlaufpunkt, in dem arbeitet