Dem Leben dienen. Peter Spönlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Spönlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738049060
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haben.

      Dem Machtimperium der Wirtschaft ist die Entstehung sozialer Probleme völlig gleichgültig geworden, es fühlt sich nicht mehr eingebunden in eine soziale Solidarität. Gleichzeitig verliert die Politik ihre kontrollierende und regulierende Kraft, sie gerät immer mehr in die Abhängigkeit der Wirtschaft. Die Politiker werden zu Marionettenfiguren und Hausmeistern der Wirtschaft, sie fungieren nur noch als Feuerwehr, um die zahllosen Brände und Krisen in allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft einigermaßen unter Kontrolle zu halten, was ihnen aber auf Dauer nicht mehr gelingen kann. Diese Ohnmacht der Politik kann schließlich in der Bevölkerung den Ruf nach dem „starken Mann“ auslösen und die Entstehung totalitärer Regime begünstigen.

      Wirtschaftliches Wachstum, der entscheidende Eckpunkt des ganzen Systems neoliberaler Ökonomie, kann nur noch mit dem zunehmenden Risiko eines weltweiten sozialen und ökologischen Notstandes erkauft werden. Das bedeutet aber: Das erklärte Ziel endlosen Wirtschaftswachstums wird zum Feind des Lebens. Es ist mit einer positiven Weiterentwicklung des Lebens von Mensch und Schöpfung nicht mehr zu vereinbaren. Schon heute, nach zweihundert Jahren moderner technischer, industrieller und ökonomischer Entwicklung, kann man sagen, daß dieses System nicht in der Lage ist, auf Dauer zu existieren und die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Je offensichtlicher sich diese Perspektive abzeichnet, umso perfekter und gigantischer wird die Organisation und das globale Getriebe der „Megamaschine“, wie Lewis Mumford in seiner Studie über den Mythos der Maschine die moderne Zivilisation des globalen Computerzeitalters nennt. Er kommt zu dem Schluß: „Nur einer Sache können wir gewiß sein: Wenn der Mensch seiner programmierten Selbstvernichtung entkommen soll, dann wird der Gott, der uns schützt, kein ‚deus ex machina’ sein – er wird in der menschlichen Seele auferstehen.“

      Bei der globalen Finanzkrise im Herbst 2008 wurden von den Staaten der Welt mehr als 3100 Milliarden Euro an Geldmitteln aus öffentlichen Steuergeldern zur Verfügung gestellt, um das internationale Bankensystem zu retten, das von geldgierigen, verantwortungslosen und kriminellen Managern an den Rand des Ruins gebracht wurde. Zusätzlich wurden weltweit mehr als 1300 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme bereitgestellt, um die rückläufige Wirtschaftsentwicklung wieder in Gang zu bringen. Zur gleichen Zeit genehmigen sich Bankmanager millionenschwere Bonuszahlungen trotz der globalen Finanzkrise und wirtschaftlichen Rezession, die sie selbst verursacht haben. Diese Ereignisse dokumentieren den brutalen Egoismus unseres liberal-kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystems, das aufgrund seines globalen Machtmonopols das Leben von Mensch und Schöpfung willkürlich beherrscht und bedrückt. Systeme lebensbedrohender Macht haben aber in der Evolutions- und Menschheitsgeschichte auf Dauer keine Überlebenschance: Entweder sie zerstören sich irgendwann gegenseitig oder sie brechen in sich selbst zusammen, weil sie dem Leben nicht zu dienen vermögen. Denn das Lebensprinzip der Evolution beruht nicht auf der Zuspitzung von Machtstrukturen wie etwa in der Monarchie, der Diktatur oder in der kapitalistischen Ökonomie: Es beruht im Gegenteil gerade auf der Verhinderung von Machtkonzentrationen einzelner Species durch eine zunehmende Vielfalt der Arten und Organismen und deren allseitiger und gegenseitiger Ergänzung. Wenn darum als Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise dringend notwendige Maßnahmen zur Lösung der sozialen Probleme in den einzelnen Ländern, zur Rettung des Weltklimas, für die Entwicklungshilfe und für die Hungersnot von nahezu einer Milliarde Menschen auf dieser Erde zurückgestellt werden, dann ist in diesen Mißständen das Menetekel, die tödliche Krankheit und der geistige und ethische Bankrott unserer so maßlosen und arroganten Zivilisation zu sehen: „ Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. Geteilt wird dein Reich und anderen gegeben“ (Daniel 5.25-27). Keine äußerlichen Reparaturen, gesetzlichen Reglementierungen und schärferen Kontrollen werden die tödliche Krankheit unserer von der Diktatur kapitalistischer Ökonomie beherrschten Zivilisation beheben und heilen können. Hier gilt dasselbe, was Albert Schweitzer als Bedingung für den Frieden geäußert hat: „Regeln über Friedensschlüsse ... vermögen nichts. Nur das Denken, das die Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht bringt, ist fähig, den ewigen Frieden heraufzuführen.“

      Die „Risikogesellschaft“

      Je perfekter und gigantischer sich die „Megamaschine“ der Technik und Wirtschaft entwickelt, um so mehr entzieht sie sich menschlicher Kontrolle und um so gefährlicher wird das Risiko für das Leben von Mensch und Schöpfung. „Im Modernisierungsprozeß werden mehr und mehr auch Destruktivkräfte in einem Ausmaß freigesetzt, vor denen das menschliche Fassungsvermögen fassungslos steht“, so der Soziologe Ulrich Beck. Unsere Wohlstandsgesellschaft entwickelt sich mehr und mehr zu einer „Risikogesellschaft“, wir sitzen auf einem „zivilisatorischen Vulkan“. „In der entwickelten Moderne entsteht ein neuartiges Gefährdungsschicksal, das unter dem Vorzeichen der Angst steht und gerade kein traditionelles Relikt, sondern ein Produkt der Moderne ist, und zwar in ihrem höchsten Entwicklungsstand. Kernkraftwerke – Gipfelpunkte menschlicher Produktiv- und Schöpferkräfte – sind seit Tschernobyl auch zu Vorzeichen eines modernen Mittelalters der Gefahr geworden. Sie weisen Bedrohungen zu, die den gleichzeitig auf die Spitze getriebenen Individualismus der Moderne in sein extremstes Gegenteil verkehren. ... Gegen die Bedrohung der äußeren Natur haben wir gelernt, Hütten zu bauen und Erkenntnisse zu sammeln. Den industriellen Bedrohungen der in das Industriesystem hereingeholten Zweitnatur sind wir geradezu schutzlos ausgeliefert. Gefahren werden zu blinden Passagieren des Normalkonsums. Sie reisen mit dem Wind und mit dem Wasser, stecken in allem und in jedem und passieren mit dem Lebensnotwendigsten – der Atemluft, der Nahrung, der Kleidung, der Wohnungseinrichtung – alle sonst so streng kontrollierten Schutzzonen.“

      Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte sind es nicht mehr die natürlichen Krankheiten und Katastrophen, die uns bedrohen, sondern die Krankheiten und Katastrophen, die wir durch unsere so fortschrittliche zivilisatorische Lebensweise selbst produzieren und auslösen: Die wachsende Zahl der Zivilisationskrankheiten, die nicht abreißende Kette von Lebensmittelskandalen, die BSE-Krise, die unabsehbaren Gefahren der Atomenergie und der Atomwaffen, die Not und das Elend in den armen Ländern der Erde und die wachsende Armut in den reichen Ländern. Die Bedrohung der westlichen Welt durch den Terrorismus ist letztlich nur eine Reaktion auf die Überheblichkeit und die Ungerechtigkeit des reichen Teiles der Welt gegenüber dem armen. Die Gefahr des Terrorismus ist nicht kalkulierbar und letztlich wohl auch nicht mit Gewalt zu besiegen, sondern nur dadurch, daß die Ursachen beseitigt werden, die Terrorismus entstehen lassen: Die Arroganz des westlichen, insbesondere des amerikanischen Imperialismus. Solange dies nicht geschieht, werden Terroristen zu allem bereit sein. In der Zeit des Kalten Krieges zwischen Ost und West konnte die Gefahr eines atomaren Krieges noch durch gegenseitige Abschreckung gebannt werden. Heute ist die Atomgefahr völlig unberechenbar geworden. „Ich behaupte sogar“, so Erhard Eppler in einem Interview, „sie war noch nie größer als heute. Die Geheimdienste aller großen Nationen sind inzwischen zu einem beträchtlichen Teil mit den Gefahren atomaren Terrors beschäftigt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man die ganze Erde mit Atomkraftwerken voll pflastern kann, ohne daß es zu einem atomaren Terrorismus kommt. Und der atomare Terrorismus wäre das Ende unserer Zivilisation.“ Derzeit sind in Europa 200 Atomkraftwerke in Betrieb und weltweit 443 in 31 Ländern.

      Die Gefahren für die biologische Umwelt sind unabsehbar geworden. Obwohl die katastrophalen ökologischen, humanen und wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels bekannt sind, ist eine wirksame weltweite Initiative zur Reduzierung der Treibhausgase noch immer nicht in Sicht. Vor fast vierzig Jahren hat der Club of Rome seine berühmte Studie über die Grenzen des Wachstums veröffentlicht. Er warnte vor den Folgen eines ungezügelten Wirtschaftswachstums und hielt einen „geistigen Wandel kopernikanischen Ausmaßes“ für erforderlich, um die Katastrophen zu vermeiden, die uns bei unveränderter Entwicklung der modernen Industriegesellschaft drohen. Ein zweiter Bericht des Club of Rome über Die neuen Grenzen des Wachstums stellte zwanzig Jahre später (1992) fest, daß die Grenzen bereits überschritten sind. Bis heute sind die Bemühungen des Club of Rome erfolglos geblieben.

      Aber die Stimmen der Mahner sind seither nicht verstummt. Die „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“, eine Einrichtung der Vereinten Nationen, veröffentlichte 1987 unter dem Titel „Unsere gemeinsame