Seit Jahrzehnten wird von weitsichtigen Menschen aus unterschiedlichen geistigen Richtungen eine kopernikanische Wende in Ökonomie und Politik angemahnt. Aber sie findet nicht statt, weil die notwendige Korrektur mit den Machtinteressen von Technologie, Ökonomie und Politik nicht vereinbar ist. Die Macht des Kapitalismus und seiner Finanzmärkte sowie der Klimawandel lassen sich nur im globalen Einverständnis aller Nationen unter Kontrolle bringen. Für die soziale Gerechtigkeit und für den Frieden gilt dasselbe wie für die Ökologie: Derartige Ziele können nicht aus dem Kalkül politischer oder ökonomischer Interessen, sondern nur aus einer ethischen Gesinnung verwirklicht werden.
Aber diese sucht man überall dort vergebens, wo Machtinteressen im Spiele sind. Der christliche Theologe und Tropenarzt Albert Schweitzer (1875 – 1965) beschließt sein Werk Kultur und Ethik (1923) mit den Worten: „Regeln über Friedensschlüsse, mögen sie noch so gut gemeint und noch so gut formuliert sein, vermögen nichts. Nur das Denken, das die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht bringt, ist fähig, den ewigen Frieden heraufzuführen.“ Die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ enthält die beiden Pole christlicher Spiritualität, die Hingabe an das göttliche Geheimnis allen Lebens und die Liebe zum Nächsten, die Albert Schweitzer auf alle Geschöpfe ausdehnt und die im praktischen Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung verwirklicht wird. Ohne die Aktualisierung dieses elementaren religiösen Geistes, so Albert Schweitzer, ist in unserer Zeit kein Frieden möglich, weder im sozialen, noch im politischen Bereich, noch im Verhältnis der Menschen zur Natur.
Aus dieser Aktualisierung der Mystik und Ethik erwächst ein unerschöpfliches Potential für eine aktive und kreative Neugestaltung aller Lebensbereiche zu einer neuen globalen Kultur aus der Spiritualität der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Für diese Erneuerung erlebt der einzelne Mensch, der wach geworden ist für die Geschehnisse unserer Zeit, einen unmittelbaren Gestaltungswillen und eine Verantwortung, die nicht an Politiker delegiert werden kann. Denn die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ drängt uns bereits jetzt, zu einem Zeitpunkt, da es noch keine politischen Lösungen für die gegenwärtige globale Lebenskrise gibt, uns in den Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung zu stellen. Aber welcher praktische Weg der Erneuerung eröffnet sich, und was können wir aus eigener Initiative konkret tun? Das ist die Frage, der ich in diesem Buch nachgehen möchte. Ich sehe vor allem drei Schritte, mit denen wir, Menschen wie du und ich, einen Weg der Erneuerung aus dem Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben“ beginnen können:
Die Zeichen der Zeit
Zunächst geht es darum, die besondere Eigenart der Krise zu erkennen, in der sich die Menschheitsentwicklung gegenwärtig befindet und an der wir als einzelne Menschen mit beteiligt sind. Erst wenn wir verstehen, welcher epochale Wandel sich in unserer Zeit vollziehen will, können wir auch die besondere Aufgabe, Herausforderung und Chance wahrnehmen, die dieser Wandel für die Entwicklung der Menschheit und für uns als einzelne Menschen bedeutet. Daraus lassen sich dann auch die Wesenszüge des neuen Geistes erkennen, von dem eine Erneuerung aller Lebensbereiche ausgehen kann.
Gesund werden
Unsere gesamte technokratische Zivilisation leidet an einer fortschreitenden Entfremdung vom Leben, von der wir als einzelne Menschen zwangsläufig mit betroffen sind. Der Weg der Heilung besteht darin, den Anschluß ans Leben neu zu finden, indem wir uns bewußt einüben in die vier elementaren Beziehungen menschlichen Lebens: In die Beziehung zur Schöpfung, zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen als Brüder und Schwestern und zum göttlichen Geheimnis allen Lebens. Darin besteht zugleich die Einübung in den neuen Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben“, den Albert Schweitzer formuliert hat. Nur die Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ erfüllt den ganzheitlichen, ökumenischen und interreligiösen, den sozialen, ökonomischen und politischen Anspruch, aus dem eine neue menschliche Kultur geboren werden kann.
In Gemeinschaft leben
Aus dieser Einübung in den neuen Geist einer neuen Epoche kann die Initiative entstehen, neuartige gemeinschaftliche Lebensformen zu bilden, selbst verwaltete Gemeinwesen als Werkstätten, in denen die Kunst des Lebens und des Friedens gelernt werden kann, während heute noch überall auf dieser Erde in Kasernen und auf Schlachtfeldern der Haß, die Feindschaft, das Töten und der Krieg geübt wird. Die tiefe soziale, ökologische, ökonomische und politische Krise der alten Nationalstaaten und die weltweite Flüchtlingsproblematik sind Phänomene eines umfassenden globalen Zerfalls der alten nationalen Völkerschaften und ihrer traditionellen Lebensformen. Nur in kleinen, selbständigen und selbst verwalteten Gemeinwesen wird es möglich sein, daß gleichberechtigte Mitglieder in gemeinsamer Verantwortung alle Bereiche des Lebens, das Arbeiten und Wirtschaften ebenso wie die Erziehung und Bildung und das soziale und kulturelle Leben aus dem Geist der „Ehrfurcht vor dem Leben“ neu gestalten können. Solche neuen Lebensformen können zur sozialen Grundlage werden für die Entstehung einer neuen Ordnung der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung.
Die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der umfassenden globalen Lebenskrise der Gegenwart und die Frage nach der Aufgabe, die uns darin zukommt, werden wir erst dann recht beantworten können, wenn wir diese Krise als Geburtswehen einer neuen Zeit und einer neuen Menschheitskultur verstehen und durchstehen: Heute ist die Zeit, in der etwas Altes zu Ende geht und etwas Neues geboren werden will. Durch bloße Reformen am Alten wird es jedoch nicht zum Leben kommen können. Die gegenwärtige globale Lebenskrise hat darum den Sinn, auf allen Gebieten des Lebens unsere persönlichen kreativen, geistigen und ethischen Kräfte, unseren Glauben und unseren Mut herauszufordern, um soweit es uns möglich ist in ersten Schritten die Vision von einer neuen Kultur aus der Mystik und Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu verwirklichen.
Ich würde mich freuen, wenn diese Schrift einen Anstoß geben könnte, um zum Gespräch zu ermuntern über das Neue, das heute und künftig von uns getan werden kann. –
Peter Spönlein
Waldkirch, Juni 2015
Krise und Erneuerung
Im vergangenen Jahrhundert ereigneten sich zwei epochale Entdeckungen, die in ihrer Gegensätzlichkeit sehr genau die geistige Krise unserer modernen Zivilisation kennzeichnen und zugleich ihre Lösung andeuten und einen Weg der Erneuerung eröffnen: Es ist einerseits die Entdeckung der Atomenergie und die Erfindung der Atombombe und andererseits die Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie. Einerseits werden wir mit der Tatsache konfrontiert, daß die technische Autonomie des Menschen und seine Beherrschung der Natur imstande ist und darauf abzielt, alles Leben auf dieser Erde zu vernichten. Andererseits eröffnet die Einsicht in die ökologischen Gesetzmäßigkeiten, Beziehungen und Zusammenhänge in der Natur uns Menschen die reale Möglichkeit, diese Erde in ein Paradies zu verwandeln und eine globale Lebensordnung des Friedens und der Freundschaft zu verwirklichen mit allem, was lebt.
Im Jahr 1972 ist die denkwürdige Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ der Weltöffentlichkeit vorgestellt worden. Das Erscheinen dieser Studie markiert ein entscheidendes Datum in der Geistesentwicklung der Moderne. Zum ersten Mal werden Grenzen des techno-ökonomischen Fortschrittes sichtbar, jenseits derer dieser bisher so stolze Fortschritt in eine Katastrophe globalen Ausmaßes umzukippen droht. Was die Thesen dieser Studie so provokant macht, ist nicht so sehr der Appell an die Betreiber des Fortschrittes, ihre ehrgeizigen Programme herunterzufahren oder gar zu stoppen. Die Provokation und das Ärgernis der Grenzen des Wachstums liegt vielmehr in