Dem Leben dienen. Peter Spönlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Spönlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783738049060
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könnte, daß das Leben auf dem Planeten, den wir bewohnen und der uns ganz alleine anvertraut ist, scheitern kann. Die Frage, ob wir diese Erde lieben, können wir auch an keine Instanz unserer gegenwärtigen Zivilisation weitergeben; denn diese Instanzen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stammen aus einer alten Zeit und dienen einer alten Lebensordnung. Wir können von ihnen nicht erwarten, daß sie die neue Frage vernehmen und verstehen, die das Leben heute an uns richtet, und daß sie Maßnahmen ergreifen und Wege eröffnen für das Werden einer neuen Kultur. Die Instanzen der alten Ordnung verwalten das Alte, bis die Zeit kommt, da es erlöschen muß. Nicht mehr Macht und Herrschaft über die Schöpfung, sondern Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung, Freundschaft mit allem, was lebt, darin wird künftig die große, faszinierende neue Aufgabe menschlicher Kultur bestehen.

      Die Charakterisierung der gegenwärtigen Lebenskrise als „Pubertätskrise“ in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte weist darauf hin, daß diese Krise nicht mehr durch einen weiteren Fortschritt technischer, ökonomischer und politischer Maßnahmen, Macht und Programmierung des Lebens überwunden werden kann, sondern allein durch die geistig-seelische und ethische Reifung und Gesundung des einzelnen Menschen. Sie besteht darin, daß in ihm die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum Tragen kommt, die ihn zum Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung fähig macht. Diese Ethik in sich zu entwickeln und in Freiheit zu verwirklichen, wird der einzelne Mensch bis heute dadurch gehindert, daß er sich in seiner Erziehung und Bildung und in seiner Arbeit den herrschenden Überlebensbedingungen unterwerfen muß, deren Inhalte und Ziele von einer technisch und ökonomisch programmierten Fortschritts-, Wachstums- und Wettbewerbsideologie bestimmt sind. So kann er sein Selbstwertgefühl nicht darin finden, an einer Kulturentwicklung mitzuwirken, die dem Leben von Mensch und Schöpfung dient. Um die gegenwärtige „Pubertätskrise“ der Menschheit zu überwinden, bedarf es neuartiger ganzheitlicher Bildungsmöglichkeiten und entsprechender sozialer Lebensformen, in denen Menschen in freiwilligem Zusammenschluß und in eigener Verantwortung ihr Leben und Arbeiten im Geiste der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gestalten können.

      Zwei Propheten: Albert Schweitzer und Pierre Teilhard de Chardin

      In dunkler Zeit der Krise Wegweisung zu geben aus dem lebendigen Geist der Religion, das ist der Auftrag der Propheten. Religion ist ursprünglich Wegweisung für ein sinnvolles und gelingendes Leben des Menschen. Aber sie neigt dazu, sich im Laufe der Geschichte in rituellen Formen zu verfestigen und in moralischen und dogmatischen Lehrgebäuden zu erstarren. Der Prophet bricht diese Erstarrung auf, legt den Zugang zur ursprünglichen Quelle des lebendigen religiösen Geistes frei und aktualisiert dessen schöpferische und heilende Kraft für das Leben der Gegenwart. In diesem Sinne können die beiden christlichen Theologen Albert Schweitzer und Pierre Teilhard de Chardin als herausragende Propheten unserer Zeit gelten. Dem Weg, den sie in der Auseinandersetzung mit unserer gegenwärtigen Epoche eines welthistorischen Wandels gewiesen haben, ist allerdings innerhalb des Christentums bis heute noch nicht die ihm gebührende Anerkennung zuteil geworden als einem Weg aus der Krise, die heute alle Lebensbereiche erfaßt hat.

      Gott und Mensch als Wille zum Leben und zur Liebe

      Die neue Frage, die das Leben heute an uns richtet, ist letztlich religiöser Natur. Wir können darum auf diese Frage nur eine religiöse Antwort geben. Der Geist der Religion gewinnt an der Schwelle zum Erwachsenwerden der Menschheit eine ganz neuartige und entscheidende, Kultur begründende Bedeutung. Nach christlichem Verständnis verwirklicht sich Religion in einer zweipoligen Spiritualität: Jesus hat die beiden Pole menschlicher Existenz Liebe zu Gott und Liebe zum Mitmenschen genannt. Sie waren bereits im mosaischen Gesetz enthalten, aber Jesus sah in ihnen die beiden höchsten Gebote und stellte sie in die Mitte menschlichen Lebens. Albert Schweitzer (1875-1965) hat darin die Basis christlichen Lebens und des Christentums gesehen, wobei er die Nächstenliebe auf alle Geschöpfe ausdehnt: „Jeder unbefangen denkende Mensch kann nicht anders als die Liebe nicht nur den Menschen, sondern auch der Kreatur gegenüber zu betätigen. Wir ... werden durch das in unseren Herzen und im Denken enthaltene und von Jesus ausgesprochene Gebot der Liebe gezwungen, unserem natürlichen Mitempfinden gegen die Geschöpfe freien Lauf zu lassen und ihnen ... Hilfe zu bringen und Leiden zu ersparen.“

      Für Albert Schweitzer ist christliche Religion etwas denkbar Einfaches: Sie besteht darin, Gott zu erfahren als den unendlichen Willen zum Leben und zur Liebe und diesen göttlichen Willen zugleich als das innerste Wesen des Menschen zu erkennen und in allen Situationen des Lebens gegenüber den Mitmenschen und allen Geschöpfen der Natur zu verwirklichen. Was Jesus unter Religion versteht, faßt Albert Schweitzer folgendermaßen zusammen: „Er hat Religion und Menschlichkeit so zusammengeschweißt, daß es keine Religion mehr gibt, daß sie für ihn nicht existiert ohne die wahre Menschlichkeit, und daß die Aufgaben der wahren Menschlichkeit nicht gehört werden können ohne Religion.“

      Philosoph, Theologe, Musiker und Arzt

      Albert Schweitzer war Doktor der Philosophie und der Theologie und Privatdozent an der Fakultät für evangelische Theologie in Straßburg, Vikar in der Pfarrei St. Nicolai und Leiter des evangelischen Studienstiftes St. Thomas, wo er evangelische Pfarrer ausbildete. Und er war bereits ein bekannter Musiker vor allem als Bach-Interpret. Obwohl er in allen diesen Tätigkeiten sehr erfolgreich war, entschloß er sich dazu, ab seinem dreißigsten Lebensjahr in einem einfachen menschlichen Dienst in der Nachfolge Jesu zu leben. Er studierte Medizin und ging im Jahr 1913 als Arzt gemeinsam mit seiner Frau nach Lambarene im zentralafrikanischen Gabun, wo die Pariser Missionsgesellschaft eine Missionsstation unterhielt. Mit seinem Entschluß, als Arzt nach Afrika zu gehen, erntete er in seinem evangelischen Umfeld zu Hause nur Kopfschütteln. Verständnis brachte ihm allein seine Frau Helene Bresslau entgegen, die aus einer jüdischen Familie stammte.

      Erneuerer und Reformator des Christentums im 20. Jh.

      In seinem elementaren Verständnis christlicher Religion und christlichen Lebens wurde Albert Schweitzer mit Franz von Assisi (1182- 1226) verglichen, der in allen Geschöpfen seine Brüder und Schwestern sah und ohne kirchliche Ämter und Würden nur in der Nachfolge Jesu leben und den Menschen in ihrer Not beistehen wollte. In dieser Rückführung und Konzentration der christlichen Religion auf ihren wesentlichen Kern kann Albert Schweitzer als eine Prophetengestalt und als ein Erneuerer und Reformator christlicher Religion und Ethik im 20. Jahrhundert gelten. „Ehrfurcht vor dem Leben“ bedeutet für Albert Schweitzer umfassende Verantwortlichkeit. Im Jahr 1919 sagt er in einer Predigt: „Leben heißt für uns, alles, was sich mit der Kreatur und mit dem Menschen um uns herum ereignet, selbst Anteil nehmend mitzuerleben, die Sorge in Sorge mitempfinden, die Angst als unsere Angst mitmachen, mithelfen, wo eine Anstrengung gemacht wird auf Erhaltung oder auf Steigerung und Vervollkommnung des Lebens. Miterleben heißt, sich für alles, was sich in unserem Bereich abspielt, verantwortlich fühlen.“

      Ich möchte hier zunächst noch näher auf den etwas fremdartigen und sperrigen Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ eingehen. Albert Schweitzer war sich selbst durchaus bewußt, daß dieser Begriff etwas altväterlich klingt. Dennoch blieb er dabei, da er keinen besseren oder moderneren Begriff finden konnte, der den geistigen Inhalt seiner Ethik auszudrücken vermochte. Die beiden Elemente „Ehre“ und „Furcht“ sind auf den ersten Blick durchaus dazu angetan, beim heutigen Leser Mißbehagen auszulösen und eine Assoziation mit etwas Positivem gerade zu blockieren. Aber Albert Schweitzer will mit dem Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zunächst zum Ausdruck bringen, daß es in seiner elementaren Ethik um eine unbedingte wertschätzende Achtung geht, die der Mensch allem Lebendigen und der ganzen Schöpfung schuldet. Diese Achtung und Liebe gegenüber allem Leben, sowohl gegenüber dem anderen Menschen als auch gegenüber Tier und Pflanze, ist dem Menschen mit fragloser Selbstverständlichkeit geboten, weil alles Leben so wie er selbst einen Willen zum Leben in sich hat, über den er als Mensch nicht beliebig verfügen kann. Denn dieser Wille zum Leben kommt aus dem geheimnisvollen göttlichen Urgrund, aus dem der Mensch selbst ebenso wie alles andere Leben hervorgeht. Als verschiedene Erscheinungen dieses einen göttlichen