„Wenn ich es gewusst hätte. Wenn ich nicht davon ausgegangen wäre, dass es unmöglich ist.“ Vincent starrte auf seine Handflächen und schüttelte den Kopf.
Seine Mutter wartete schweigend.
„Ich hätte niemals riskiert, dass sich die Prophezeiung erfüllt. Ich hätte Daria und euch alle nie dieser Gefahr ausgesetzt. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen“, schloss er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Sag so etwas nicht“, hauchte Silvia und berührte ihn sanft an der Schulter. „Er ist dein Sohn, auch wenn du noch so jung bist. Er wird dich lieben und du ihn auch.“
„Sicher nicht. Ohne ihn wären wir all dem hier nicht ausgesetzt.“ Vincents Hände umschrieben einen großen Bogen, schlossen den kargen Raum, seine Verzweiflung und all seine Ängste mit ein. „Es gibt nur einen Grund, warum ich hier bin und kämpfen werde, und der ist nicht die Prophezeiung oder dieses Baby, sondern Daria.“
*
Erik hatte den Verhörraum bald nachdem Iris angefangen hatte, über die Auserwählten zu berichten, verlassen, was Major Forbes nur recht gewesen war.
hätte ihre Anwesenheit ohnehin nicht viel länger ertragen. Ihr schmales Gesicht, die vertrauten Züge, ihre Stimme. Er kannte sie. Kannte jeden Zentimeter ihrer Haut, all ihre Sehnsüchte und Träume. Ihre Macken und Vorlieben. Aber das war schon lange her.
Erik war sich nicht im Klaren, ob die Frau, die da in diesem Verhörraum saß – die Frau, die ihre Tochter ohne Umschweife derart schwer verletzt hatte und bereit gewesen war, einen Jungen zu töten –, noch viel gemeinsam hatte mit der Frau, die er in seinen Erinnerungen trug. Vermutlich nicht.
Galle stieg ihm die Kehle hoch und er verzog das Gesicht. Ob vor Schmerz oder Abscheu wusste er selbst nicht.
Erik hob den Kopf und betrachtete die Zahl auf der Eisentür vor ihm. Das musste Darias Zimmer sein. Sachte drückte er die Tür auf und war nicht wirklich überrascht, als er Daria im Kreis ihrer Freunde antraf. Sie lümmelten alle auf den beiden schmalen Pritschen herum und unterhielten sich leise.
Ihre Gespräche verstummten jäh, als sie ihn entdeckten. Alle starrten ihn an. Er hatte allerdings nur Augen für seine Tochter. Erik schluckte schwer und räusperte sich, weil er seiner Stimme nicht recht vertraute.
„Könnte ich bitte mit meiner Tochter einen Augenblick alleine sein?“ Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall, was im Angesicht der Situation nicht die einfachste Übung war.
Seine kleine Daria, die in seinen Augen selbst noch ein Kind war, würde ein Baby bekommen. Und nicht irgendein Baby, sondern die Reinkarnation von einem der mächtigsten Elementträger, die je auf Erden gewandelt waren. Ihr ganzes Leben lang hatte er alles Erdenkliche getan, um sein kleines Mädchen zu beschützen, und er würde es bis zu seinem letzten Atemzug weiter versuchen. Doch die Angst, dass es ihm bei allem, was ihnen nun bevorstehen mochte, nicht gelingen könnte, schnürte ihm die Kehle zu.
Bewegung kam in die Gruppe und einer nach dem anderen drückten sie sich an ihm vorbei zur Tür hinaus. Die Letzte, die den Raum verließ, war Darias beste Freundin Izzy. Sie drückte Daria noch einmal fest an sich und bedachte Erik mit einem bedeutungsschweren Blick, als sie an ihm vorbeiging.
„Du hast wirklich gute Freunde“, stellte Erik fest, während er sich neben seiner Tochter auf die Pritsche sinken ließ.
Sie nickte und musterte ihn aus ihren großen blauen Augen. Ein schuldbewusster, verletzlicher Ausdruck lag darin. Offenbar wartete sie auf ein Donnerwetter.
Erik seufzte schwer und schloss seine Tochter in die Arme. Er brauchte keine Worte, um ihr das mitzuteilen, was sie wissen musste.
Er würde für sie da sein, so wie er es immer gewesen war.
Eine ganze Weile saßen sie einfach nur schweigend beieinander. Erik konnte beim besten Willen nicht sagen wie lange. Irgendwann jedoch begann Daria mit leiser, zaghafter Stimme zu sprechen. Sie erzählte von jener Nacht, als sie von diesen irren Mitgliedern der Auserwählten entführt und gefoltert worden war, und von den Geschehnissen, die zu ihrer Verletzung geführt hatten. Diesmal jedoch berichtete Daria mehr als nur die halbe Wahrheit, sie berichtete auch von dem Auftauchen ihrer Mutter. Nicht nur in dieser Nacht, sondern noch ein weiteres Mal einige Wochen später. Jedes Mal, wenn sie Iris erwähnte, war Erik, als würde ihm die Luft wegbleiben. Daria beschrieb ihre Sorgen, und wie sehr sie das Wissen um ihre Mutter belastet hatte.
„Ich hätte es dir einfach sagen müssen“, schloss sie schließlich und sah ihn aus diesen Augen an, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren.
Ja, das hättest du, dachte Erik. Der Schmerz und die Enttäuschung, die er dabei empfand, machten ihn ganz unruhig und er stand auf. Langsam durchquerte er den kleinen Raum und blieb vor der spartanischen Wascheinrichtung am anderen Ende stehen. Sein Spiegelbild sah ihm blass und verhärmt entgegen.
„Nein. Es war richtig von dir, es für dich zu behalten. Iris wusste, was sie tat, indem sie dich darum gebeten hat, es mir nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich nicht so einen kühlen Kopf bewahrt, wie ihr beide es getan habt. Bestimmt hätte ich unüberlegt gehandelt und so dich und deine Mutter in Gefahr gebracht“, versicherte er ihr. Erik versuchte sich an einem Lächeln, doch offenbar scheiterte er kläglich daran, denn seine Tochter wirkte alles andere als überzeugt.
„Wie … wie geht es jetzt weiter mit dir und Mama?“, fragte Daria. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern.
Erik setzte sich wieder neben sie und nahm ihr Gesicht in seine Hände, ehe er antwortete. „Weißt du, Liebes, deine Mutter und ich, wir haben schon viel gemeinsam durchgemacht. Die letzten Jahre über habe ich sie stets vermisst, das konnte ich wohl kaum vor dir verbergen. Wir raufen uns schon zusammen.“ Erik war heilfroh über die Sanftheit und Zuversicht, die er in seiner eigenen Stimme hören konnte. Denn tief in seinem Inneren war er nicht einmal ansatzweise so sicher, dass er damit recht hatte.
*
Izzy durchquerte einen weiteren Lagerraum und dachte nicht zum ersten Mal daran, wie leicht es wäre, sich hier zu verirren. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie in den Untiefen des Bunkers Kreise laufen, bis sie alt und grau war.
„Was machst du hier?“ Raffaels Stimme ließ sie hochschrecken. Mit klopfendem Herzen sah sie sich zwischen den Kisten und abgedeckten Möbeln um. Leise Schritte ertönten zu ihrer Rechten und gleich darauf löste sich die hochgewachsene Gestalt Raffaels aus den Schatten. Sein Gesicht war blass und die dunklen Konturen seiner Haare ließ den verkniffenen Zug um seinen Mund hart und unnahbar wirken.
„Ich habe nach dir gesucht“, gab Izzy trocken zurück. Sie war nervös in seiner Gegenwart, doch einschüchtern würde sie sich von ihm nicht lassen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was in ihm vorging, hatte sie ihn doch in den letzten Wochen näher kennengelernt, als er es vielleicht beabsichtigt hatte. Jetzt, wo er sich angesichts von Marias Tod einsam und verloren fühlen musste, zog es sie mehr denn je zu ihm.
„Warum?“, wollte er mit rauer Stimme wissen. Seine Augenbrauen zogen sich leicht nach oben.
„Weil ich wissen wollte, wie es dir geht“, erwiderte sie wahrheitsgemäß.
Raffael war nur eine Armeslänge von ihr entfernt stehen geblieben. Den Kopf hatte er gesenkt, sodass eine dunkle Strähne in seine Stirn fiel. Seine beinahe schwarzen Augen durchbohrten sie, suchten zweifelsohne nach einer Unsicherheit. Vielleicht sogar nach Angst. Einem kleinen Teil von Izzy war bewusst, dass dieser Kerl sie im Bruchteil einer Sekunde umbringen könnte. Doch mit einer unumstößlichen Gewissheit konnte sie sagen, dass er ihr nie im Leben wehtun würde. Sie griff nach seiner Hand.
„Wie kann es sein, dass ihr mir alle euer Vertrauen schenkt? Ihr wisst im Grunde gar nichts über mich.“ Unglaube und Trotz lagen in seiner Stimme.
Izzy schüttelte den Kopf. Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Raffaels