Ihre Worte, obwohl sie eher ungläubig als vorwurfsvoll klangen, versetzten Daria einen Stich und sie krümmte sich leicht.
„Die ganze Zeit wusstest du über so vieles, was rund um uns passiert ist, Bescheid und hast nichts gesagt“, bemerkte Ben tonlos.
Darias Blick verschwamm hinter den neuerlich aufkommenden Tränen. Sie hatte immer Angst vor diesem Moment gehabt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie verborgen, wer und was sie wirklich war. Nie ein richtiges Zuhause gehabt und nie Freunde, denen sie ihr Vertrauen hätte schenken können. Es war stets zu unsicher gewesen, jemandem von ihren Kräften zu erzählen, also hatte sie es nie getan. Nun bezahlte sie für ihre Lügen, so notwendig sie auch gewesen sein mochten. Diese Menschen, die da mit fassungslosen Mienen vor ihr standen, hatten sie in ihrer Mitte aufgenommen, ihr vertraut und Daria hatte sie enttäuscht.
Izzy, die zu Boden gestarrt hatte, hob nun langsam den Kopf und blickte Daria ernst an. „Du hast das all die Wochen und Monate, ach was rede ich, all die Jahre völlig alleine mit dir herumgeschleppt?“
Daria stellte verblüfft fest, dass Izzys Ton weder vorwurfsvoll noch enttäuscht klang. Auch in ihren Augen glitzerten Tränen. Daria konnte das, was Izzy gerade gesagt hatte, erst nicht richtig einordnen. Doch als ihre Freundin den Abstand zwischen ihnen schloss und sie in die Arme nahm, wusste Daria es. Izzy und die anderen waren nicht wütend. Sie verurteilten sie nicht. Es war Mitleid, das sie ihr entgegenbrachten. Sie litten mit ihr und bedauerten, was ihr widerfahren war.
Die Erkenntnis brach einen Damm in Daria und sie klammerte sich fest an Izzy, schluchzte in ihre rote Mähne und wurde nur Sekunden später von zwei weiteren starken Armen umfangen. Jemand legte ihr eine Hand auf die Schulter und eine andere streichelte sanft ihren Rücken.
In diesem Moment, geborgen in der Runde ihrer Freunde, fiel all die Angst und Anspannung von Daria ab. Ihr war schwindlig vor Erleichterung.
Ein Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf: Vincent, der freudestrahlend ein kleines Bündel im Arm hielt.
Daria wusste nicht, was die Zukunft für sie alle bereithalten würde. Doch nun war ihr klar, dass sie diesen Weg nicht allein gehen musste.
*
Eilige Schritte erklangen auf dem Flur und nur Augenblicke später wurde die Tür aufgestoßen. Sophia Terres trat ein, dicht gefolgt von einem uniformierten Kerl, den Iris nicht kannte.
Sophias Miene triefte vor Misstrauen und Feindseligkeit. Obwohl Iris diese Skepsis nachvollziehen konnte, weckte der Anblick auch unangenehme Erinnerungen in ihr. Wieder war sie in der gleichen Situation: die Gefangene von einer Organisation, die fanatisch ein Ziel verfolgte. Mit dem Unterschied, dass sie jetzt vielleicht endlich wieder bei ihrer Familie sein konnte.
Betont gelassen erwiderte sie Sophias Blicke und die des Uniformträgers, der seinerseits ein perfektes Pokerface zur Schau trug.
Hinter den beiden betrat noch jemand den kleinen Raum, in dem gerade so ein Tisch und sechs Stühle Platz hatten. Erik. Iris spürte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten. Ein vertrauter, pochender Schmerz schwoll in ihrer Brust an. Am liebsten wäre sie aufgesprungen, hätte ihre Arme fest um ihn geschlungen, ihn innig geküsst und ihm versichert, dass sie ihn jede verdammte Sekunde der letzten Jahre vermisst hatte. Doch noch wusste sie nicht, wie er inzwischen zu ihr stand. Also schluckte sie schwer und riss ihren Blick von Erik los, um Sophia und den Fremden anzusehen. Bei näherer Betrachtung stachen ihr seine Militärränge und Abzeichen ins Auge. Dieser Kerl musste ein ganz hohes Tier bei der Armee sein, was nur eines bedeuten konnte.
„Wie Sie bestimmt wissen, ist mein Name Sophia Terres. Das hier ist General Adam Forbes. Er ist …“
„Ein Mensch“, unterbrach Iris Sophias Vorstellung. Unglaube schwang in ihrer Stimme mit und war sicherlich auch in ihrem Gesicht zu erkennen.
Sophia lächelte dünn. Doch der Ausdruck in ihren leicht geweiteten Augen sprach Bände und bestätigte Iris’ Verdacht sofort. Jedoch erwiderte keiner etwas. Sophia musterte sie nur angespannt. Auch der General schien auf ihre nächsten Worte zu warten.
Iris Gedanken überschlugen sich. Sie kramte in ihren Erinnerungen, versuchte, die wenigen Informationen abzurufen, die sie über die Jahre hatte aufschnappen können. Leider waren die Vier sehr um Geheimhaltung bemüht und teilten nur höchst selten ihr Wissen mit ihren Untergebenen, mochten diese auch noch so hoch in ihrem Ansehen stehen. Was bei ihr ja ohnehin nie der Fall gewesen war.
„Dann arbeitet die Garde also mit der Regierung zusammen.“ Es war mehr eine Feststellung, doch es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wenn Iris eine Frage gestellt hätte.
Sophia Terres und der General zuckten nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen sprach Sophia einfach weiter, als wäre sie nie unterbrochen worden: „General Forbes ist einer der Erfahrensten im Umgang mit Kriegsspionen. Es hat also keinen Sinn, irgendwelche Spielchen mit uns zu treiben. Am besten wäre es, einfach mit der Sprache herauszurücken und uns alles zu erzählen.“ Sophia funkelte sie eisig an und unterstrich ihre kleine Rede noch, indem sie in dramatischer Geste ihre flache Hand auf den Tisch knallte.
Iris entfuhr ein tiefes Lachen, das in Sophias unterkühltes Gesicht rote Wangen zauberte. Jäh erstarb ihr das Lachen im Hals, als sie den Schmerz in Eriks Augen sah. Iris räusperte sich etwas verlegen und begann dann in ernstem Ton ihren Standpunkt klarzulegen. „Ich kann mir denken, was ihr von mir haltet, und ich verstehe euer Misstrauen. Immerhin wollte ich vor wenigen Stunden noch alles in meiner Macht Stehende tun, um die Prophezeiung zu boykottieren“, gab sie unumwunden zu.
Sophia knallte erneut ihre Hand auf den Tisch und schrie sie an: „Sie wollten meinen Neffen töten! Wagen Sie es bloß nicht, mir Ihr Verständnis vorzuheucheln!“
„Sophia“, sagte General Forbes schlicht, was sie dazu veranlasste, ihre Arme vor der Brust zu verschränken und sich in ihrem Sessel zurückzulehnen.
Dieser Kerl mochte vielleicht keine Elementarkräfte haben, trotzdem schien er einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Garde auszuüben, stellte Iris fest.
Mit stoischer Miene richtete er das Wort nun an sie: „Was hat sich geändert?“
Iris hielt einen Augenblick lang seinen Blick, bevor sie sich an Erik wandte.
„Nichts. Mein einziges Bestreben ist und war seit jeher, meine Tochter, meine Familie zu beschützen. Als ich den Auserwählten in die Hände gefallen war, konnte ich das am besten bewerkstelligen, indem ich ihnen, so gut es mir möglich war, gedient habe. Als dieses kranke Miststück Roxanna und ihr missratener Bruder Daria entführt und sie so in den Fokus der Vier gerückt hatten, tat ich das Einzige, dass sie in diesem Moment retten konnte. Als sie mir befohlen haben, Vincent zu töten, damit Daria am Leben bleiben durfte, habe ich ihre Anweisungen ohne Zögern befolgt.“ Iris atmete schwer, und ohne es zu wollen, waren heiße Tränen in ihre Augen getreten. Als sie weitersprach, war ihre Stimme heiser. „Die Prophezeiung ist mir egal. Ich habe keine Ahnung, wie es sein kann, doch nun scheint sie sich zu erfüllen, und der einzige Weg mein Kind weiterhin zu beschützen ist, an ihrer Seite zu stehen und sie so gut es mir möglich ist zu verteidigen. Ich bin bereit, alles dafür zu tun.“ Bei den letzten Worten hatte sie ihren tränenverschleierten Blick von Eriks warmen Augen abgewandt und ihn wieder auf Sophia Terres und den General gerichtet.
Sophia wirkte wenig überzeugt. Nach wie vor beäugte sie Iris argwöhnisch.
General Forbes hingegen quittierte ihre Aussage mit einem steifen Nicken. „Dann erzählen Sie uns alles, was Sie über die Auserwählten wissen“, forderte er sie auf.
*
Flankiert von zwei uniformierten Gestalten wurde Raffael einen endlos scheinenden, spärlich beleuchteten Gang entlanggeführt. Er wusste nicht, was sie nun mit ihm vorhatten, doch im Grunde war es ihm auch egal. Raffael hatte alles und jeden in seinem Leben verloren. Ja, er hatte den einzigen Menschen,