Doppelspitze. Gerhard Weis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Weis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691327
Скачать книгу
Der Sportsmann in mir brauchte an diesem Vormittag unbedingt eine Herausforderung. Das Streckenprofil und drei anderthalb Liter Volvic-Flaschen im Gepäck konnten mir die alleine nicht bieten. »Alter Angeber!« Hoss konnte ein solches Erfordernis nur schwer nachvollziehen. Nassgeschwitzt rasteten wir an der berühmten Rübezahlalm. Dort war die Hölle los. Mit etwas Glück und unserem kontaktfreudigen Wesen fanden wir einen Platz an einer der mit rot-weiß karierten Tischdecken hübsch gemachten Bierzeltgarnituren im Freien. Andere Wanderer und Hobbyradler mussten mit der Wiese Vorlieb nehmen.

      »Grüß Gott!«

      »Grüß Gott, die Herrschaften!«

      »Können wir uns dazusetzen?«

      »Aber selbstverständlich, wir rücken zusammen. Kommts Leute, nehmts Platz!«

      Unsere Tischnachbarn waren freundliche Menschen und ebenfalls gut drauf. Kein Wunder. Der Ausblick von der Terrasse auf den Wilden Kaiser war, wie auch der auf manchen weiblichen Gast, atemberaubend. Hier oben gaben sich nicht nur sportive Zeitgenossen ein Stelldichein. Auch dem Geschwader Reich & Schön schien die Aussicht zu gefallen. In den Gasträumen hingen zum Beweis dafür dutzendweise Fotografien diverser Stars und Sternchen. Selbst Berühmtheiten wie Fürst Albert von Monaco, Marianne Rappenglück oder Prinz Leopold von Bayern waren hier schon eingekehrt. Der Wittelsbacher sollte im Jahr darauf noch einmal für Gesprächsstoff sorgen. Nicht wegen seiner Vergangenheit als Rennfahrer, wohl aber wegen seines Modelabels »Poldi«. Völlig überraschend hatte Hoss schon nach der ersten Etappe Kohldampf und verdrückte nach einer großen Portion Leberknödelsuppe, die wir uns alle gönnten, noch einen mit Pflaumenmus gefüllten Germknödel. Er meinte, einen »kleinen Nachschlag« jetzt gut vertragen zu können. »Hau rein, Dicker!« Wir gönnten ihm die mit zerlassener Butter übergossene Mast, übten uns aber selbst in Verzicht. Die handballgroßen Hefeteigklöße waren für große Mägen geformt. Außerdem lagen noch weitere Einkehrmöglichkeiten auf unserer Route. Und für den Notfall steckte etwas Proviant in unseren Rucksäcken. Während meine Freunde Bier oder Radler tranken, begnügte ich mich mit Apfelschorle.

      »AB IN DIE WAND, SAARDÉROS!« Spätestens als wir weitermarschierten, hatte man uns wahrgenommen.

      Die Kühe auf den saftig grünen Weiden ließen sich nicht im Geringsten provozieren. Weder von Heiners Montur, noch von unseren krakeelten Parolen. Vielleicht blieben sie auch nur deshalb friedlich, weil ihnen diese stimmbandgeschädigten Verbalexoten leid taten. Bei unserem nächsten Halt wurden wir für einige Minuten Zeugen der 0:1 Niederlage des Titelverteidigers Frankreich im Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft gegen Senegal. In der Gaststube des Panoramarestaurants Bergkaiser lief tatsächlich ein Fernseher. Während die Schwarzafrikaner im Laufe des Turniers erst im Viertelfinale die Segel strichen, hieß es für die »Grande nation« schon nach der Vorrunde: fini! Die Equipe Trikolore – null Siege, null Tore – war ausgeschieden. Quelle catastrophe!

      Hoss war der Meinung, zur Abwechslung mal einen Schoppen hausgemachte Buttermilch bechern zu müssen. So etwas Leckeres gehörte gekostet! Bodo hielt mit einem Hefeweizen dagegen. Der Rest unseres Quintetts bevorzugte ein Haferl Kaffee zum Apfelstrudel mit Vanillesoße. Wie nicht anders zu erwarten, wehte nach der Fußballübertragung ein kräftiger Leibwind. Der strapazierte die Geruchssinne arg. Die ihn begleitenden Geräusche variierten je nach Spannung der Musculi sphincter ani, der Ausstoßgeschwindigkeit und dem Volumen der Gasmenge. Man konnte meinen, Glenn Miller und Max Greger spielten auf, Posaune und Trompete in B gestimmt. Hoss und Bodo beherrschten ihre Instrumente meisterlich. Wir andern gaben lediglich die Begleitmusik ab. In diesen Momenten muss eine Gruppe kommunaler Entscheidungsträger unseren Weg gekreuzt und ein mystischer Duft deren Sinne verzaubert haben. Das wäre eine Erklärung dafür gewesen, weshalb an eben dieser Stelle wenige Jahre später mit »Ellmis Zauberwelt« Feen, Kobolde und Waldgeister am Hartkaiser Einzug hielten.

      Einen besonders pittoresken Fleck hätten wir dann beinahe übersehen. Ein verwittertes Holzschild machte uns gerade noch rechtzeitig darauf aufmerksam, dass wir unser nächstes Zwischenziel fast schon passiert hatten. Viel hätte nicht gefehlt, und wir wären vorbeigelaufen. Auf den ersten Blick konnte man nicht annehmen, dass diese schlichte Hütte bewirtet wurde. Die Ranhartalm verfügte über keinen Strom und lag abseits ausgetretener Pfade. Die Ruhe dort war überwältigend. Klaus Ernst, ehemaliger Vorsitzender der Partei Die Linke, wird es nicht anders empfunden haben. Als Porschefahrer war er für einen vergleichsweise aufwendigen Lebensstil bekannt, als er bei einer Einkommensvergleiche in die öffentliche Kritik geriet. Im Sommer 2010 gab er dem ZDF auf der Ranhartalm ein Interview. Man vermutete, dass er auf dieses Schmuckstück der Genügsamkeit zurückgriff, um einen bescheidenen Lebenswandel vorzutäuschen. Hatte er doch seit Jahren in der Nachbarschaft eine zweistöckige Almhütte als Urlaubsdomizil gepachtet.

      Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag: die traumhaft schöne Natur, das Fernbleiben der Fraktion Ernst & Lafontaine oder einfach nur die ohrenbetäubende Stille an diesem malerischen Flecken Erde. Ich beging jetzt einen folgenschweren Fehler. Mich im Paradies wähnend, nahm ich mich selbst von der Leine. Mit zwei Flaschen Bier spülte ich meine ursprüngliche Absicht die Kehle runter. Eigentlich wollte ich tagsüber keinen Schluck Alkohol trinken und abends nur in homöopathischen Dosen. Das wäre in Anbetracht meiner jüngsten Erfahrungen auch vernünftig gewesen. Von der Ranhartalm machten wir uns nur ungern wieder auf. Der Abstieg bot uns dann noch einmal die Gelegenheit zur Einkehr. Die nutzten wir weidlich. Meine guten Vorsätze sind spätestens hier ertrunken. Ich fühlte mich großartig und dachte nicht im Traum daran, dass sich der Zauber dieses herrlichen Tages schon bald als trügerisch erweisen sollte.

      Am nächsten Morgen kam, was kommen musste. Was sich in meinem Innern rücksichtslos Bahn brach, war von einer äußerst feindseligen Beschaffenheit. Der 1. Juni 2002 wurde für mich zum Alptraum. Die vielen Bierchen, das üppige Abendessen, der enge Tanz mit Bodo zu den Klängen einer heimischen Combo, die anstrengenden Liegestütze auf der vollbesetzten Terrasse eben dieses Lokals, die diversen Cocktails mit einer Gruppe adretter Ellmauerinnen … und, und, und. Mein Übermut wurde hart bestraft. Der Hämorrhoidenpatient Giselher Finger hätte wissen müssen, dass die von seinem Verdauungstrakt abzuarbeitende Mischung hochexplosive Probleme für seinen Canalis analis mit sich bringen würde. Wäre ich doch nur meiner anfangs eingeschlagenen Linie treu geblieben! Dann hätte ich an diesem sonnigen Samstagvormittag womöglich mit meinen Freunden quietschfidel durch die Gegend latschen können. Aber ich wäre nicht Giselher Finger, hätte mein Urteilsvermögen über die Pläsier des Augenblicks obsiegt.

      So lag ich nun wie ein Häufchen Elend im Bett, wenn ich mich nicht gerade auf einem noch stilleren Örtchen herumdrückte. Als um 12.30 Uhr im Sapporo Dome das Spiel unserer Nationalelf gegen Saudi-Arabien angepfiffen wurde, litt ich Höllenqualen und wäre von hinten betrachtet als Backentaschenaffe durchgegangen. Bernd Pavian wäre beim Anblick meiner rosigen Schwellung vor Neid erblasst. Erst in der Halbzeitpause war ich in der Lage, mich aufzurappeln und meinen geschundenen Arsch mühsam zu meinen Freunden zu schleppen. Die warteten schon ungeduldig in einer Kneipe mit Großbildschirm auf ihren wie Hiob sanktionierten Trainer. Die Guten hatten extra meinetwegen eine Programmänderung vorgenommen und diesen Treffpunkt mit mir vereinbart. Heiner, Bodo, Hoss und Ronny waren eben nicht nur ziemlich beste Freunde.

      »Leck mich am Arsch, siehst du scheiße aus!«

      »Danke für das Kompliment, Heiner.«

      »Kellner!«

      »Komme sofort!« …

      »Soooo … bitteschööön … eine große Apfelschorle und ein Paar Wienerle mit Brot. Lass es dir schmecken, Ärmster!«

      Ich verschlang in Zeitlupe, was mir der nette Kneipenwirt in Windeseile servierte. Er war informiert, welche Art Patient gleich auftauchen würde. Die Mahlzeit gab mir einigermaßen Kraft. Trotz des 8:0 Kantersiegs, Klose erzielte drei Tore, war mir nicht zum Feiern zumute. Mir zuliebe machten die Saardéros an diesem Nachmittag einen auf Flachlandtiroler. Statt in die Wand, gings nach dem Spiel Richtung Golfplatz. Was Hoss nicht ganz ungelegen kam.

      Golf war total en vogue. Auch wenn der typische Golfer eher nicht im Golf zum Golfen fuhr. Außer vielleicht die ein oder andere Weibsperson mit einem