Der Club an sich ist recht schnell beschrieben. Um die quadratische Tanzfläche herum gibt es vom Höllengang her kommend an der linken und gegenüberliegenden Seite Amphitheater-ähnliche Sitzbänke mit jeweils drei Reihen nach oben und rechts von der Tanzfläche ist die Bar.
Diese ist echt sehenswert, denn der Tresen ist gleichzeitig ein großes Aquarium mit allerlei Sorten von bunten Fischen. Ich bin mir sicher, dass dies zwar Tierquälerei ist und irgendein Tierschutzverein hier längst eine großangelegte Befreiungsaktion plant, aber für mein Verständnis geht es den Viechern ganz gut. Ich habe das Gefühl, dass die Fische schneller schwimmen als Fische in natürlicher Wohnzimmerumgebung, denn sicher hat irgendein Clubbesucher das Wasser mal mit „G“ verfeinert. „G“ wird auch Liquid Ecstasy genannt, also perfekt für einen fischvollen Unterwassertrip. Auf mich hat die Bar immer eine sehr beruhigende Wirkung, gerade dann, wenn der ganze Mix an Lines, Pillen und Co. in meinem Schädel zu laut Synapsen-Fasching feiert. Und so geht es vielen hier, einige der Clubbesucher hatten mit den schuppigen Partyfischen die besten Konversationen ihres Lebens – wie ich weiß, da ich daneben gesessen und ganz gebannt zugehört habe, was die Fische so an Tipps und Ratschlägen von sich geben.
Rechts neben der therapeutischen Bar geht eine Wendeltreppe in den Keller. Dort gibt es einen kleinen Darkroom aus früheren Zeiten, als der Laden noch „Pink Pussy“ hieß und lediglich für Schwule zugänglich war. Da dieser immer dunkel ist, erklärt es sich von alleine, dass ich die Details dieser Lokalität mal nicht so ausführlich beschreibe.
Das „Ing! Ong!“ ist zwar ein gemischter Laden, sprich Heten und Homos verkehren hier gleichermaßen, und es gibt keine Grenzen an sexueller Vielfalt von Gästen und Besuchern, doch am Ende bumst hier alles kreuz und quer und durcheinander, jeder jeden, und ein Darkroom ist eigentlich unnötig. Hier stört sich keiner daran, wenn im Gang, auf der Tanzfläche, im Foyer oder auf den Sitzreihen gefickt wird, oder irgendwer irgendwem alle möglichen Gegenstände in diverse Körperöffnung einführt. Aber für die feine Gesellschaft, die gerne im Dunkeln bumst, hat die Clubbesitzerin Renate das Loch halt einfach da gelassen, wo es immer war, und für die Hässlichen oder Verklemmten erfüllt der Darkroom dann auch ab und an seinen Zweck.
Mein Blick geht auf die Tanzfläche, die einfach nur aus Betonplatten besteht, ich nenne sie Tanzflur. Hier und da ein kleines Schlagloch, und am Ende einer jeden Party ist der Tanzflur übersät mit Unmengen an Kippen, Joints, Glasscherben und allerlei Dingen, die man in freier Wildbahn nicht zu sehen bekäme.
Man nennt Boritz und mich wie schon gesagt die Tanzflur-Master, da wir nicht nur die ganze Nacht auf dieser verbringen, sondern dort auch immer unsere selbstdarstellerischen Shows abziehen. Wir teilen den gleichen niveaulosen, beleidigenden und vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Humor, und das spiegelt sich irgendwie auch immer in dem Benehmen auf dem Tanzflur wieder, zumal wir on top auch noch beide hervorragende Tänzer sind.
Vor ca. einem Jahr hatten Boritz und ich eine kleine Choreographie entwickelt, die eine Schlägerei simuliert. Wenn ich mit der rechten Faust in sicherem Abstand in Richtung seines Gesichtes schlage, dreht Boritz sich elegant weg, tanzt einen kleinen Kreis und kehrt nach drei bis vier Schritten wieder in die Ausgangposition zurück. Dies geschieht natürlich alles im Takt der Mucke. Zurück am Platz holt Boritz mit seiner linken Faust aus und alles geht rollenverkehrt seinen Weg wie beschrieben. Im Laufe der allwöchentlichen Partynächte kamen so viele Moves, Kicks, Tritte, Schläge und Schritte dazu, dass wir mittlerweile eine dreiminütige Elektrodance-Schlägerei aufs Parkett zimmern können, mit der wir jede Staffel einer Talent-Casting-Show locker gewinnen würden.
Vor zwei Monaten haben wir diese Elektrodance-Schlägerei zum vorerst letzten Mal performt. Jeder im Club hatte im Laufe der Monate diese spektakuläre Show bereits gesehen und wusste, dass es gesünder für ihn oder sie sein dürfte, für diese drei Minuten den Tanzflur großräumig zu meiden. Zu ausschweifend und gespielt brutal war dieses Spektakel mittlerweile geworden, aber auch zu sehenswert.
Eine Bitch namens Vera war an diesem Abend vor zwei Monaten das erste Mal im „Ing! Ong!“ und wahrscheinlich auch zum letzten Mal. Vera hatte logischerweise unsere berühmt-berüchtigte Show nie zuvor gesehen und war sich der Gefahr, als sie auf dem kürzesten Weg zur Bar die Mitte der Tanzfläche überqueren wollte, nicht bewusst. Ich befand mich gerade in einer fünf Schritte umfassenden Runde mit dem Rücken zu Boritz, nachdem ich einen rechten Haken von Boritz krachend entgegengenommen hatte. Der kommende Move sah vor, dass ich noch in der Drehbewegung zum Gegner mit einer temporeich geschwungenen Linken Boritz zu Boden strecke, indem er im hohen Bogen nach hinten fliegt, sich durch eine gekonnte Schraube in der Luft dreht und sich mit den Händen zuerst der Körperlänge nach elegant auf dem Betonboden abrollt. Vera konnte nichts davon und fiel wie ein nasser Sack, ohne Schraube und vor allem ohne elegantes Abrollen, mit dem Rücken zuerst auf den Tanzflur. Ich hatte soeben den härtesten linken Haken meines Lebens in Veras Gesicht versenkt und somit angefangen, Frauen zu schlagen.
Boritz und ich haben unangemessenerweise erst gekotzt vor Lachen, zu perplex, überraschend und unerwartet war dieser K.O. in Veras „Runde 1“. Zugeballert mit Koks und Pillen fiel auch in den nächsten Sekunden und Minuten unser Mitgefühl für Vera nicht gerade groß aus, und bevor es zu einem unüberschaubaren Handgemenge zwischen Veras Freundinnen und den Tanzflur-Mastern kommen konnte, ging auch schon Piotr zwischen die zwei Fraktionen, der das ganze Programm ja am Bildschirm im Foyer aus der ersten Reihe beobachten konnte.
Auch wenn Piotr wusste, dass es mein linker Haken war, der Vera ein massiv blaues Auge und vier Tage Kopfschmerzen verabreicht hatte, sorgte Piotr für die einzig richtige Lösung und schmiss Vera mit all ihren Freundinnen mit folgenden Worten aus dem Club: „Lasst Ihr Euch hier noch einmal blicken, gibt es von mir noch eins aufs andere Auge.“ In jener Nacht durfte Piotr mir zweimal den Schwanz lutschen, das war ich ihm schuldig.
Ein zweiter denkwürdiger Moment auf dem Beton-Tanzflur des „Ing! Ong!“ liegt schon etwas länger zurück, aber er war nicht weniger großartig als Veras kurzer Gastauftritt.
Boritz und ich haben die lästige Angewohnheit, die Leistung des anderen toppen zu müssen; wir sind ehrgeizig und besserwisserisch und können nicht verlieren. Nehme ich vier Ecstasy, nimmt Boritz fünf, zieht er zwei Lines, ziehe ich zur Vorsicht gleich vier. Diese unangenehmen Charaktereigenschaften erklären nicht nur unseren übertriebenen Drogenkonsum, sondern auch die folgende kurze Anekdote.
Mir ist die gottgegebene Gabe zuteilgeworden, dass ich aus dem Tanzen heraus mit der rechten Hand meinen linken Fuß festhalten kann, um dann mit dem rechten noch am Boden stehenden Bein über den linken Fuß durch den rechten Arm springen zu können, um dann cool weiter zu tanzen. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht und sieht verdammt lässig aus. Boritz war stets neidisch auf diesen Move, aber ihn einfach nur nachzumachen, wäre unter seiner Würde gewesen. Stattdessen musste diese Sache getoppt werden, und so erinnerte er sich an eines seiner Lieblingsmusikvideos. In diesem rannte ein Tänzer auf eine Hauswand zu, lief diese mit zwei bis drei Schritten hoch, um sich dann mit Kraft nach hinten abzustoßen und nach einem Rückwärtssalto auf beiden Beinen landend weiter zu tanzen. So die Theorie.
Nach einem abermaligen erfolgreichen Durch-die-Beine-Springen von mir hatte Boritz die Schnauze voll. Er nutzte die Gunst der Stunde und rannte mit voller Energie auf die Wand neben dem Eingang zum Höllengang am Anfang des Tanzflurs zu, um all das im Video Gesehene spektakulär in die Tat umzusetzen. Boritz hatte neben Koks, Pillen und etwas „G“ auch zu viel Wodka Red-Bull gesoffen und sprang einfach gegen die Wand. Es folgten weder zwei bis drei Schritte nach oben auf dem Weg zum Sieg gegen meine Wenigkeit, noch gab es einen Rückwärtssalto oder ein coole Landung. Was folgte war ein dumpfer Schlag auf den Betonboden und ein unbeweglicher Boritz, der wimmernd zugab, dass ich diese Runde wohl gewonnen habe.
Diese Nacht endete für Boritz unter Einnahme von schmerzlindernden Drogen, dieses Mal ärztlich verabreicht, in der Notaufnahme des Krankenhauses