Kapitel 4
Blass und verschämt steuerte Charlotte auf ihre Gruppe zu. Mittlerweile hatten sich auch alle anderen Mörderspiel-Gruppen in der großen Halle des Museums versammelt. Einige Streifenpolizisten waren in der Halle verteilt, die nach den Personalien der Anwesenden fragten. Tatjana gab gerade bei einer Polizistin an, dass sie außer dem Schrei nichts weiter mitbekommen habe. Nachdem die Beamtin alle wichtigen Angaben von Tatjanas Ausweis abgeschrieben hatte, kehrte Tatjana zur Gruppe zurück. Als sie Charlotte erblickte, steuerte sie direkt auf sie zu und fragte aufgeregt: „Was ist denn hier los? Ist was passiert? Hast du was gesehen?“ Aber Charlotte fühlte sich noch wie betäubt, schüttelte nur den Kopf und ging zur Polizistin hinüber, um Tatjanas Fragen auszuweichen. Dort stand jetzt eine junge Frau aus ihrer ‚The Benedicts‘-Gruppe und machte ebenfalls alle gewünschten Angaben. Als sie sich abwandte, sah die Beamtin Charlotte an und schlug eine neue Seite in ihrem Notizblock auf. „Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“ „Ja...“ Charlotte wollte bereits nach ihrer Umhängetasche greifen, doch als sie ins Leere griff, fiel ihr plötzlich auf, dass ihre Tasche immer noch hinter dem Ausstellungskasten liegen musste – verdammt. „Also eigentlich... nein.“ Die Beamtin zog eine Augenbraue nach oben und fragte nun: „Name?“ „Charlotte Bienert“ „Geburtsdatum?“ „15. Mai 1987“ „Was ist Ihr Beruf?“, hakte die Frau nach. „Ich bin angestellte Redakteurin bei der Weinstadt Woche“, kam es wie automatisch von Charlotte. „Wo wohnen Sie?“ Charlotte seufzte und antwortete: „Ich lebe mit meiner Schwester Sanne ‒ also eigentlich Susanne – in einer WG in Fellbach. Hallstätter Straße32.“ Nun schien die Beamtin alle Personalien zu haben, die sie benötigte, und fragte: „Haben Sie etwas beobachtet, was mit dem heutigen Vorfall in Verbindung stehen könnte?“ Charlotte stockte. „Ähm... naja... schon möglich, aber irgendwie auch wieder nicht.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen sagte die Beamtin: „Ja oder nein?“ Charlotte lächelte nervös. „Ja... ich meine... ja ich glaube ich hab‘ was gesehen. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht waren es nur die Nerven...“ Die Polizistin musterte sie einen Augenblick. „Ich mache mal einen Vermerk, dass Sie vielleicht etwas gesehen haben. Bitte gehen Sie zu Ihrer Gruppe zurück und warten dort, bis Sie von Kommissar Jankovich aufgerufen werden.“
Der Lederjackenträger hieß also Jankovich. Stumm nickte Charlotte und wandte sich ab. Ihre Tasche war weg, und ohne Handy konnte sie ihrer Schwester nicht Bescheid geben, dass es länger dauern würde. Sie lief zu Tatjana und fragte, ob sie kurz mit ihrem Handy telefonieren dürfte. „Ja klar. Aber was ist denn hier los, sag mal?“ „Ich erklär‘ es dir gleich, ich muss nur schnell telefonieren“. Charlotte wandte sich ab und klingelte bei sich zuhause durch. Nach dem dritten Klingeln nahm ihre Schwester ab. „Ja hallo?“ „Ich bin’s“, sagte Charlotte. „Was ist denn los, bist du nicht im Museum?“, fragte Sanne verwundert. „Doch, ich wollte nur kurz Bescheid geben dass es etwas länger dauern könnte.“ Charlotte schloss die Augen, weil sie wusste, dass sie ihre Schwester damit beunruhigte. „Wieso? Ist was passiert?“ „Ja, kann man so sagen. Aber ich erzähl es dir erst, wenn ich zuhause bin, ok?“ Jetzt nahm die Stimme ihrer Schwester einen alarmierten Ton an: „Was ist passiert?“ Charlotte seufzte. „Wie gesagt, ich erzähle es dir später. Mir geht es gut, keine Sorge, ich wollte dir nur kurz sagen, dass ich später komme.“ „Was heißt später? Willst du spät nachts noch mit der S-Bahn fahren? Ich hol‘ dich ab!“ Charlotte war dankbar für dieses Angebot. „Ja ok, das wäre gut. Ich geb‘ dir Bescheid, sobald ich hier fertig bin. Kann aber echt später werden, ok?“ „Ja, schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr...“, entgegnete Sanne und klang dabei angespannt. „Ok, dann bis später. Wie gesagt, mach‘ dir keine Sorgen, ich melde mich wieder.“ „Gut, dann bis später.“ Beide legten auf. Dankend gab Charlotte das Telefon an Tatjana zurück. Fragend blickte diese sie an. „Und, was ist jetzt?“ Widerwillig erklärte Charlotte, dass eine Leiche gefunden wurde und dass es der Schauspieler war, der den Buchhalter gespielt hatte. Dass Charlotte jemanden bei dem Toten bemerkt hatte, verschwieg sie aber.
Die Beamten baten alle Besucher, die die Leiche gesehen hatten oder etwas Auffälliges beobachtet hatten, zu bleiben. Alle anderen durften gehen, nachdem sie ihre Personalien angegeben hatten. Die restlichen knapp 20 Personen warteten alle in der Halle darauf, dass ein Beamter sie aufrief. Jeder der aufgerufen wurde, lief über die Treppe zur Galerie nach oben ins Büro, um mit dem Kommissar zu reden. Anschließend durften diese Besucher gehen. So wurde es nach und nach leerer in der Halle. Charlotte sehnte sich zunehmend danach, endlich auch nach Hause gehen und schlafen zu dürfen. Hin und wieder wechselte sie einige unmotivierte Sätze mit den anderen Wartenden, die ebenfalls frustriert und übermüdet wirkten. Gegen 2 Uhr nachts kam Charlotte dann endlich an die Reihe und betrat das Büro. In der Zimmermitte stand ein Tisch, an dem der der Mann saß, den die Beamtin Stunden zuvor als Kommissar Jankovich bezeichnet hatte. Mittlerweile hatte er seine Lederjacke abgelegt und saß in einem hellbauen Hemd vor ihr, dessen oberster Knopf geöffnet war. Mit beinahe unbeweglicher Miene fixierte er Charlotte, als sie durch die Tür trat. Wie um die bevorstehende Befragung noch etwas hinauszuzögern, sah Charlotte sich in dem stickigen Raum um. Es sah aus, als wäre alles durchsucht worden. Papier lag verstreut auf den anderen Schreibtischen und auf dem Boden, Schreibtischschubladen waren herausgezogen und zwei Sektgläser, eines mit gut sichtbaren Lippenstiftspuren, standen neben einer leeren Flasche auf einem der Tische. Charlotte vermutete, dass das ganze Szenario zum Mord im Museum gehörte. Nur nicht der Tisch in der Raummitte. Der Kommissar sah erstaunlich fit aus für diese Uhrzeit. ‚Das liegt vermutlich daran, dass er solche Situationen öfter erlebt‘, fuhr es Charlotte durch den Kopf. Sie selbst fühlte sich wie gerädert. „Frau Bienert. Bitte, setzen Sie sich.“ Freundlich deutete der Kommissar auf den Stuhl ihm gegenüber. Vor ihm lagen ordentlich sortiert kleine Papierstapel. Charlotte vermutete, dass es sich dabei um die Notizen der Streifenbeamten mit den Personalien sämtlicher Museumsbesucher handelte. Dann erblickte sie auf dem Tisch auch ihre orangefarbene Umhängetasche, die sie neben dem Ausstellungskasten liegen gelassen hatte. Offensichtlich war sie durchsucht worden, da der Reißverschluss der Tasche offen war. Charlotte ärgerte sich darüber, während sie Platz nahm. Während sie sich setzte, stieg ihr ein leichter Geruch von After Shave in die Nase. Der Kommissar beobachtete sie unverwandt und hob an: „Sie haben also ebenfalls die Leiche gesehen. Außerdem haben Sie meiner Kollegin gegenüber erwähnt, vielleicht etwas gesehen zu haben, das... mit dem Vorfall in Verbindung steht. Erzählen Sie doch erst einmal, warum sie überhaupt dorthin gelaufen sind.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Charlotte atmete tief durch. Genau genommen hatte sie keine Antwort auf diese Frage. Verschämt senkte sie den Blick. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Eigentlich wollte ich gar nicht dorthin, aber gleichzeitig dachte ich, ich sollte mal nachsehen.“ Damit er nicht nachhakte, sprach sie schnell weiter. „Ich bin also den Rundgang hochgelaufen und hab’ die anderen gesehen, die dort im Halbkreis rumstanden und auf irgendwas am Boden gestarrt haben. Ich bin dann näher hin, und da hab’ ich ihn dann gesehen... also den Schauspieler, der als Steiner vorgestellt wurde.“ Sie schluckte. „Irgendwie war mir klar, dass er wirklich tot ist, schließlich hab’ ich auch das Blut gerochen... und dann bin ich hinter den Ausstellungskasten gegangen, weil mir so schlecht geworden ist.“ Nach einem Moment des Schweigens fragte