Kapitel 3
Alle verstummten und hielten beim Gehen inne. Irritiert riss Charlotte ihren Kopf in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Auch die anderen Gruppenmitglieder sahen sich unsicher um. Ein ungutes Gefühl beschlich Charlotte und sie dachte: ‚Das klang aber ganz schön echt.‘ Mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht drehte sie sich zu ihrem Guide um. Doch die junge Frau wirkte ebenfalls verunsichert, sie stand regungslos da und lauschte nach weiteren Geräuschen. Dann hörten sie alle gedämpfte Stimmen aus der Richtung, aus der der Schrei ertönt war. Das unverkennbare Geräusch quietschender Turnschuhe auf Linoleum näherte sich auf einmal aus der entgegengesetzten Richtung. Ein Sicherheitsbeamter des Museums kam aus dem Gebäudeinneren, passierte ihre Gruppe und rannte den Rundgang zur linken Seite hinauf, in Richtung des Schreis. Nun kam auch Bewegung in Charlottes Gruppen-Guide. Die junge Brünette stammelte: „Ähm... bleiben Sie bitte kurz hier.“ Dann folgte sie dem Mann eilig in den Rundgang. Ihrer Bitte folgend blieben ‚The Benedicts‘ unsicher dort stehen, wo sie zum Halten gekommen waren. „Meinst du, das gehört noch zum Spiel?“, fragte Tatjana Charlotte. Einen Augenblick sahen sie sich an und Charlotte zuckte mit den Schultern. Ihre Gedanken rasten. Einerseits war sie verängstigt und wollte erst abwarten, bis die Museumsangestellte zurückkam, um ihnen zu sagen, was los war. Andererseits konnte sie sich bildhaft vorstellen, wie ihr Chefredakteur reagieren würde: Wenn tatsächlich etwas passiert war und Richling erfuhr, dass sie sich eine solche Gelegenheit entgehen ließ, würde er sie ins Ressort Garten&Grünzeug degradieren. Kurzentschlossen wandte sich Charlotte von der Gruppe ab. „Wo willst du denn hin?“, fragte Tatjana sie schrill. „Ich... geh nur mal kurz... also einer sollte doch mal kurz nachsehen...“ Mit hochrotem Kopf und rasendem Puls lief Charlotte in Richtung Rundgang. Sie hörte das „Bleib‘ lieber hier“-Zischen von Tatjana nur mit halbem Ohr.
Als sie um die gewölbte Wand des Rundgangs lief, erblickte Charlotte einen aufsteigenden Steg. Sie ging ihn eilig hoch und konnte jetzt verstehen, was die nervösen und angespannten Stimmen sagten: „Rufen Sie sofort die 110 an“, „Oh Gott wie schrecklich“ und „Das kann doch nicht wahr sein!“. Ein paar Schauspieler und Mördersucher aus einer anderen Gruppe umringten etwas, das auf dem Boden lag. Der Sicherheitsbeamte stand abgewandt und sprach mit angespannter Stimme in sein Handy. „Ja, Vollmer mein Name. Ich bin Wächter im Landesmuseum Stuttgart und möchte einen Toten melden.“ Pause. „Ja, einen Toten, sieht aus als...“, er schluckte hörbar, „...wäre er ermordet worden.“ Charlotte rutschte das Herz in die Knie. ‚Ein echter Mord?‘, dachte sie entsetzt. Einem Impuls folgend wäre sie jetzt am liebsten weggerannt. Doch sie verharrte mehrere Sekunden lang wie angewurzelt auf der Stelle. Dann traf sie eine Entscheidung. Langsam, als würde eine fremde Kraft sie steuern, näherte sich Charlotte wie in Trance der Menschenmenge. Keiner sprach mehr, alle waren vollkommen verstummt. Charlotte schob sich neben ihren Gruppen-Guide, die ebenfalls im Halbkreis stand, und senkte den Blick widerstrebend zu Boden. Erst sah sie nur braune, säuberlich polierte Lederschuhe. Dann wanderte Charlottes Blick langsam höher, über zwei ausgestreckte Hosenbeine. Ihr Herz raste jetzt, aber wie unter Zwang ließ sie ihren Blick weiter über den Körper am Boden gleiten.
Charlotte hatte noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen. Doch irgendwie wusste sie, dass das hier ein echter Toter war und kein Schauspieler, der sich tot stellte. Der Mann, der am Boden lag, war auch nicht einer der Wärter, der laut Spielplan das Opfer verkörpern sollte. Es war der gutaussehende Schauspieler, der sich als Buchhalter Steiner vorgestellt hatte. Der Mann lag reglos auf dem Rücken. Sein Gesicht war merkwürdig entspannt, seine Arme lagen schlaff neben dem Körper. Auf dem Hemd, das er trug, war ein großer, dunkelroter Fleck zu erkennen. Charlotte stieg der eisenhaltige Geruch von frischem Blut in die Nase und ihr wurde schlagartig schlecht. ‚Oh Gott, ich glaub‘ ich muss mich übergeben‘, schoss es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich abrupt um und lief ein paar Schritte von der Leiche weg. Keiner beachtete sie. Mit einem Ohr hörte Charlotte, wie der Sicherheitsbeamte das Gespräch mit der Polizei beendete. Dann wählte er offenbar eine neue Nummer, denn diesmal bat er seinen neuen Gesprächspartner ungeduldig um „Irgendetwas, um hier abzusperren.“ Gegen die Übelkeit ankämpfend sah Charlotte sich panisch um und suchte nach einer Möglichkeit, aus der Sichtweite der anderen zu kommen. Sie erblickte zwei Ausstellungskästen in der Nähe, die auf hölzernen Panels standen und ging um einen der Kästen herum. Sie hoffte inständig, sich nicht erbrechen zu müssen. Mit schwachen Beinen legte sie sich kurzerhand auf den kühlen Museums-Steinboden hinter dem Kasten. Dabei stieß sie sich unsanft den Kopf am harten Boden. Hastig schob sich Charlotte ihre Schultertasche unter den Kopf. Das tat gut. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. ‚Oh Gott, das gibt es doch nicht‘, dachte sie und hatte plötzlich das Gefühl, weinen zu müssen. Wieder atmete sie tief aus. ‚Das ist nur die Panik, mir geht es gleich besser‘, versuchte sie sich einzureden. Sie hörte neue, eilige Schritte herannahen – wohl der Kollege mit dem Absperrutensil. Der erste Sicherheitsbeamte sagte zu den Leuten im Halbkreis, sie sollten jetzt gehen, bis die Polizei komme. „Bis dahin sperre ich hier ab“, fügte er noch hinzu. Charlotte blieb hinter dem Kasten liegen. Da sie von der Holzverkleidung verdeckt wurde, blieb sie von den anderen unbemerkt. Sie konnte und wollte aber auch noch nicht aufstehen.
Nach kurzer Zeit waren alle gegangen, und es wurde ruhig um Charlotte. Offenbar hielt sich auch der Sicherheitsbeamte nicht mehr beim Toten auf. Charlotte atmete tief durch und merkte, wie ihr Herzschlag etwas langsamer wurde. Auch ihre Übelkeit war schwächer geworden, und sie versuchte vorsichtig, sich aufzusetzen. Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung inne. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich etwas bei der Leiche bewegte. Sofort beschleunigte sich Charlottes Puls wieder und sie traute sich kaum zu atmen. Sie glitt geräuschlos in die Hocke, wohlbedacht, von dem hölzernen Kastenteil verdeckt zu bleiben. Vorsichtig blickte sie über den gläsernen Kastenrand. Vor lauter Aufregung begann ihre Sicht zu verschwimmen. Doch Charlotte konnte ihren Blick nicht abwenden und starre wie gebannt in Richtung des toten Körpers. Und da sah sie eine Gestalt, die sich über die Leiche beugte. Charlottes Herz raste und sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Dennoch glaubte sie, ein leises Wimmern zu hören, das die Gestalt von sich gegeben haben musste. Dann ertönten, deutlich lauter, von draußen Polizeisirenen, die schnell näher kamen. Die Gestalt schreckte auf, und für einen entsetzlichen Augenblick dachte Charlotte, die Person sehe sie direkt durch den Glaskasten hindurch an. Doch dann drehte sich der Schatten ab und rannte auf lautlosen Sohlen davon. Wie versteinert blieb Charlotte hinter dem Kasten hocken. Doch sie sah der weglaufenden Gestalt hinterher und drehte dabei den Kopf zur Seite. Als ihr Blick den benachbarten Glaskasten streifte, nahm sie für den Bruchteil einer Sekunde eine Bewegung in den Scheiben wahr. Unfähig, sich zu rühren, harrte Charlotte in der Hocke aus.
Mehrere Sekunden verstrichen, bis ihr plötzlich auffiel, dass es ziemlich verdächtig war, sich in der Nähe der Leiche aufzuhalten. Doch weglaufen konnte sie nicht mehr: Sie hörte erneut Stimmen vom Rundgang herannahen. Eine der Stimmen war dabei fest und ruhig. Ein Mann Mitte dreißig in Lederjacke und Jeans kam in Begleitung eines Streifenpolizisten und dem Sicherheitsbeamten des Museums näher. Alle steuerten direkt auf die Leiche am Boden zu. Knapp fünf Schritte von ihr entfernt blieben sie stehen. Der Lederjackenträger sagte: „Wir warten, bis die Kriminaltechnik und der Rechtsmediziner da sind.“ In Charlottes Kopf begann sich die Gedanken zu überschlagen. ‚Was mache ich jetzt? Ich komme sofort hinter dem Kasten hervor! Oder doch nicht? Wie sieht das denn aus, dann hält der mich ja gleich für die Mörderin! Oh mann, oh mann...‘, Charlotte entfuhr ein verzweifelter Laut, und sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. Sie betete, dass niemand sie gehört hatte. Aber trotz dem Rauschen in ihren Ohren konnte sie hören, wie sich ihr langsam Schritte näherten. Sie kniff die Augen zusammen und wartete, bis das Unausweichliche eintrat. „Kommen Sie da raus, heben Sie die Hände nach vorn damit ich sie sehen kann!“, sagte eine strenge Stimme zu ihr. Blinzelnd öffnete Charlotte die Augen und sah im Halbdunkeln zu dem Lederjackenträger hinauf, der ihr mit gezogener Waffe gegenüberstand. Falls überhaupt möglich, sank ihr Herz noch tiefer. „Ich... ich... tut mir leid... mir war einfach so schlecht, da hab’ ich mich kurz hierhergelegt...“, stammelte sie. „Hände