„Bayern geht es im Vergleich zu Deutschland noch gut“, hatte er höflich geantwortet.
„Mag sein, aber wichtige Politiker des Landes wollen, wie Sie vielleicht schon gehört haben, Bayern endlich auf den richtigen Kurs bringen.“
„Seit wann hören Sie auf die weltfremden Äußerungen verwirrter Gruppierungen?“, hatte er spöttisch erwidert. Die Prognosen versprachen einen schlechten Wahlausgang und dass ein ehemaliger bayrischer Ministerpräsident ihn auf solch einen Humbug ansprach, hatte ihm die Geduld geraubt. Er war einfach weitergegangen.
„Herr Harchinger, direkt vor der nächsten Bundestagswahl wird man Ihnen einen Vorschlag von enormer Wichtigkeit unterbreiten. Versprechen Sie mir, dass Sie sich mit diesem Angebot auseinandersetzen werden“, hatte Heitmeier noch gerufen. Er hatte nicht reagiert.
Jetzt bereute Harchinger, dass er Heitmeier nicht mehr Zeit gewidmet hatte. Er schaltete seinen Computer ein und reglos wartete er, bis das Programm hochfuhr.
„Nur eine neue Nachricht.“
„Stammt sie aus der Staatskanzlei?“, fragte Klein.
„Ja.“
„Beachten Sie den Absender.“
„Ja, schon gut.“ Harchinger öffnete die E-Mail und begann zu lesen. Nach wenigen Zeilen musste er sich zusammenreißen. Die Nachricht war echt und der Absender ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Inhalts.
„Und, was meinen Sie?“
„Als bayerischer Bundestagsabgeordneter weiß ich natürlich, wem ich verpflichtet bin. Die Wahlplakate, die auf dem Tisch liegen, sprechen wohl für sich.“
„Sie dürfen uns nicht missverstehen“, sagte Leutner. „Wir sind nur hier, um Ihnen auszurichten, dass Sie nicht der Einzige sind, der in diesen Tagen Besuch von unserem Verein erhalten hat. Natürlich verlassen wir uns darauf, dass Sie niemanden über unser Gespräch und die E-Mail informieren werden.“
„Wir werden sehen. Jetzt will ich Sie aber nicht weiter aufhalten.“
„Wann können wir mit einer Antwort rechnen?“ Es überraschte Leutner nicht, dass Harchinger das Gespräch so schnell abgewürgt hatte. In den vergangenen Tagen hatte er das öfters erlebt.
„In 48 Stunden haben Sie meine Antwort.“
„Damit können wir leben“, sagte Klein.
„Sie werden die richtige Entscheidung treffen“, fügte Leutner abschließend hinzu.
Die Situation, in der er gefangen war, erinnerte Harchinger an die Offiziere der Titanic. Überleben oder mit untergehen war die Frage, die sich ihm stellte. Eiligst führte er Klein und Leutner zur Haustür. Überschwänglich verabschiedeten die beiden sich von ihm. Er hielt das für unangebracht und an der Tür lehnend sah er hinter ihnen her. Er wusste nicht, ob er deren Zuversicht teilen sollte. Der Inhalt der Mail war mehr als brisant.
„Papa, kommst Du endlich?“, hörte er seine Tochter rufen.
„Ja Schatz.“
Er warf die Tür zu und ging ins Wohnzimmer.
„Alles gut?“, fragte seine Frau.
„War nicht weiter wichtig.“ Harchinger hockte sich zu seinen Kindern an das Playmobilschloss. Seine Gedanken galten jedoch nicht dem Spiel, sondern der Zukunft der Bundesrepublik. In zehn Minuten würde er die Kinder ins Bett bringen und während seine Frau die Gutenachtgeschichte vorlas, würde er Heinrichs anrufen und eine Aufklärung von ihm fordern.
2.
20. SEPTEMBER | EIN TAG BIS ZUR BUNDESTAGSWAHL
Bühler Stammhaus | 20 Uhr
Das kräftige Klopfen beendete von Carstheims ungeduldiges Auf- und Abwandern.
„Herr Freiherr, die Herren Gruber und Grahammer sind eingetroffen.“
„Ich komme“, antwortete von Carstheim und nach wenigen Sekunden trat er aus der lederbeschlagenen Tür seines Arbeitszimmers.
„Georg, wir werden Geschichte schreiben.“
„Wie Sie meinen.“
Von Carstheim überging die gelangweilte Reaktion seines Butlers. Jede zweite Stufe überbrückend lief er die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Die vier abschließenden Stufen überwand er mit einem Satz. Der leichtfüßige Absprung und die federnde Landung verrieten, dass es sich bei ihm um einen geübten Fechter handelte. Mit weit ausholenden Schritten durchlief er den dahinterliegenden Saal und durch einen mit edlen Wandteppichen geschmückten Korridor stürmte er in den Wintergarten, der die Ausmaße eines Handballfeldes besaß.
„Guten Abend. Sie wurden von meinem Butler versorgt?“ Von Carstheim verlangsamte seine Schritte.
„Bestens“, sagte Grahammer, der an dem venezianischen Tisch saß, der den Mittelpunkt des Wintergartens bildete. Grahammer war über zwei Meter groß. Den Menschen, die ihn nicht kannten, fiel es schwer, zu akzeptieren, dass dieser vollbärtige Gigant der Chef der ständigen bayerischen Vertretung in Berlin war. Sein fränkischer Akzent vertiefte diese Ungläubigkeit noch.
„Natürlich tragen wir eine gewisse Nervosität in uns“, sagte der zweite Mann am Tisch. Er hieß Anton Gruber und war deutscher Innenminister a. D. Die Presse hatte ihm fehlerhaftes Verhalten bei den April-Ausschreitungen vorgeworfen. Vor zwei Jahren war es in Deutschland zu heftigen Demonstrationen gekommen, weil die Bevölkerung die extremen Einschnitte im Sozialstaat nicht widerstandslos hingenommen hatte. Einen Monat lang hatten die Bürger gegen die Europa-Politik der Regierung protestiert. Die Situation auf der Straße war eskaliert und Gruber hatte auf Härte gesetzt. Der unnachgiebige Einsatz von Wasserwerfern und Polizeikräften hatte die Empörung der Menschen allerdings noch gesteigert. Tagelang hatte die Regenbogenpresse gegen ihn gehetzt und auf Drängen des Kanzlers musste er seinen Rücktritt erklären. Seine politische Haupttätigkeit hatte von da ab Dein Baden-Württemberg e. V. gegolten.
„Die Zeit des Zweifelns ist vorbei. Die Nervosität wird sich bald legen. Wichtig ist nur, dass die Vorbereitungen abgeschlossen sind.“ Energiegeladen setzte sich von Carstheim an den Tisch.
Gruber nahm sich zurück und überließ Grahammer, der sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete, das Wort.
„Wir können losschlagen. Die Vereine haben ausreichend Werbezeiten gebucht und die kleineren Clubs werden am Mittwochmorgen informiert und sich der Sache anschließen. Einzig Steiger könnte ein Problem werden.“
„Überlassen Sie Steiger ruhig mir.“
„Dann bleibt es dabei, Herr von Carstheim. Nur der Wahlausgang könnte sich zum Stolperstein entwickeln.“ Das Erscheinen des Butlers hinderte Grahammer am weitersprechen.
„Herr von Carstheim, haben Sie oder die Herren noch einen Wunsch?“
„Wir benötigen Sie nicht mehr. Nehmen Sie sich den Abend frei. Wir kommen zurecht.“
„Wie der Herr Freiherr wünscht“, antwortete der Butler und mit der seiner Zunft eigenen Mischung aus Stolz, Würde und Diskretion verabschiedete er sich.
„Sie brauchen sich keine Sorgen über den Wahlausgang zu machen“, wendete von Carstheim sich wieder an seine Gäste. „Deutschland wird in unserem Sinne abstimmen.“ Von Carstheim hatte seiner Stimme eine schmeichelhafte Überzeugungskraft verliehen, gleichermaßen duldete sie keinen Widerspruch.
„Sie sollten wissen, dass sich etwas ergeben hat, was mir zu denken gibt.“
Grahammers mächtiger Brustkorb spannte sich an. „Friese hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er den Volksentscheid unterstützen will.“
„Aber das ist doch eine gute Nachricht“, sagte Gruber in bester Laune.
„Leider