Die Insel. Daniel Sternberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daniel Sternberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847606116
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Name ist Leon. Ich bin gestern hier gestrandet, und ich wollte euch fragen, ob ihr mich zum Festland bringen könnt."

      "Zum Festland?", erwiderte ein kräftiger Kerl mit Vollbart, "du meinst, nach Ellenor?"

      Seine Kameraden lachten kurz auf, wurden aber gleich wieder ernst.

      "Nein, ich meine das Festland", entgegnete Leon und zeigte mit der Hand nach Osten, dorthin, wo soeben die Sonne aufgegangen war, "ihr müsst es doch kennen, das Festland, die grosse Insel, die nur ein paar Stunden von hier entfernt liegt."

      Der Bärtige sah ihn belustigt an, bevor er einen bedeutungsvollen Blick mit seinen Kameraden wechselte. Er war deutlich grösser als Leon und fast doppelt so breit. "So so, du bist also gestern hier gestrandet", sagte er und schaute ihn mit seinen kleinen, ausdruckslosen Augen an, "dann musst du noch viel lernen. Es gibt nämlich keine grosse Insel da draussen, und demzufolge können wir dich auch nicht dorthin bringen."

      "Aber ich weiss, dass da draussen das Festland liegt!", beharrte Leon und schaute beschwörend in die Runde, "ich bin dort geboren! Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht!"

      Der Bärtige lächelte nachsichtig und verschränkte die Arme über der Brust. "Ich rate dir Eines, und ich meine es gut mit dir: Vergiss deine Flausen und füge dich in dein Schicksal, denn so schnell kommst du hier nicht mehr weg."

      Leon öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Die Männer schauten ihn halb belustigt, halb befremdet an und warfen einander vielsagende Blicke zu, so dass er beschloss, es woanders zu versuchen. Er ging zur nächsten Gruppe - offenbar handelte es sich bei ihnen um Bauern, denn sie hatten verschiedene Ackergeräte bei sich - und fragte sie ebenfalls nach dem Festland. Doch auch sie schüttelten nur die Köpfe, sahen ihn verständnislos an und behaupteten, noch nie etwas davon gehört zu haben. Und die Antworten blieben überall dieselben, an wen er sich auch wandte. Die Männer warfen ihm befremdete Blicke zu, tuschelten hinter vorgehaltener Hand, rieten ihm, seine Flausen zu vergessen und wandten sich von ihm ab. Sie schienen sich überhaupt nicht für ihn zu interessieren, gerade so, als würde auf dieser Insel tagtäglich ein neuer Mensch angeschwemmt.

      Leon stellte sich mitten auf den Platz und verschränkte die Arme, während er fühlte, wie sich in seinem Bauch die Wut zusammenballte. Es konnte doch einfach nicht sein, dass niemand etwas vom Festland wusste. Oder war es möglich, dass er auf einer Insel gelandet war, die bisher - aus welchen Gründen auch immer - noch nie mit der Zivilisation in Berührung gekommen war? Obwohl sie so nahe am Festland lag und das Meer tagtäglich von unzähligen Fischerbooten, Frachtschiffen und Tankern durchkreuzt wurde? Oder spielten sie ihm einfach einen dummen Streich, um sich über ihn lustig zu machen? Er überlegte, was er als nächstes unternehmen sollte, als sein Blick auf den Berg fiel, den er schon am Abend zuvor gesehen hatte. Gestochen scharf zeichnete er sich über den Dächern ab, es schien, als bräuchte man nur die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren. Er besass die Form eines fast vollkommenen Kegels. Seine Flanken liefen gleichmässig gegeneinander, nur seine Spitze erschien aus dieser Entfernung leicht gebrochen. Leon presste die Lippen zusammen, warf den Männern, die ihn noch immer belustigt betrachteten, einen abfälligen Blick zu und verliess den Platz mit gestochenen Schritten.

      V

      Ausserhalb des Dorfes erstreckten sich weitläufige, saftiggrüne Wiesen, die den felsigen Grund fast vollständig bedeckten. Der Wind strich über die Gräser und wogte sie sanft hin und her, da und dort wuchsen Büsche und niedrige Bäume, die sich zu kleinen Gehölzen formierten. Leon folgte dem Pfad, der entlang eines Baches führte, in Richtung des Berges. Er war hellwach, obwohl er nicht gut geschlafen hatte. Sein Kopf fühlte sich ungewöhnlich klar an, gerade so, als wären die Windungen seines Gehirns während der Nacht von einer unsichtbaren Hand gereinigt worden. Vielleicht lag es daran, dass er wieder vollkommen nüchtern war, vielleicht lag es an der Luft, die ungewöhnlich scharf in seine Nase stieg. Auf jeden Fall hielt er sich nicht lange darüber auf, denn er sah zahlreiche Hasen und sogar ein paar Rehe, die unweit des Pfades, an etwas erhöhter Stelle, auf der Wiese grasten. Die Rehe hoben den Kopf, schauten zu ihm her, hielten die Nase in den Wind und grasten weiter, als wäre nichts geschehen. Leon blieb stehen und betrachtete die seltsamen Geschöpfe, denn es war das erste Mal, dass er ein so grosses Tier in freier Wildbahn erlebte. Als er sich näher heranschleichen wollte, trabten die Rehe gemächlich davon und liessen sich auf der nächsten Anhöhe nieder. Er schaute ihnen noch eine Weile zu, wandte sich ab und setzte seinen Weg fort, der jetzt über sanft ansteigende Hügel führte. Die Bäume wurden zahlreicher und höher, bis sie sich zu einem Wald verdichteten. Die Baumkronen über ihm schlossen sich zu einem undurchdringlichen Blätterdach, so dass nur noch wenig Licht bis auf den Grund des Waldes drang. Der Boden wurde von weitläufigen, rötlichen Moosteppichen überwuchert, da und dort wuchsen hohe, ausladende Farne. Das Moos bedeckte zudem einen grossen Teil der Baumstämme, zwischen denen sich der Pfad hindurchschlängelte. Eichhörnchen kletterten um die Wette, und in den Baumkronen, die hoch über seinem Kopf schwebten, zwitscherten unsichtbare Vögel. Gelegentlich verliess er den Pfad und ging zum Bach hinüber, der noch immer in der Nähe des Pfades verlief, um zu trinken. Am Ufer des Baches wuchsen zahlreiche Brombeersträucher, so dass er beschloss, ein bescheidenes Frühstück einzunehmen. Als er sich die erste Beere in den Mund steckte, knackte ganz in der Nähe ein Ast, und dann noch einer. Vorsichtig schob er die Zweige des Strauches beiseite und entdeckte ein Wildschwein, das nur ein paar Armlängen von ihm entfernt im Gebüsch stand und ihn mit seinen kleinen, gläsernen Augen anstarrte. Er schluckte, und sein Herz begann, schneller zu schlagen. Er wagte es nicht, sich zu rühren, denn das Tier war ungewöhnlich gross, seine Hauer lang und scharf. In jenem Sommer, in dem er auf den Feldern vor der Stadt gearbeitet hatte, waren gelegentlich Wildschweine aufgetaucht und hatten den Boden umgepflügt, so dass die Arbeiter vor dem angriffslustigen Verhalten, das diese Tiere an den Tag legen konnten, gewarnt worden waren. Damals war er nie einem solchen Tier begegnet, während des ganzen Sommers nicht, aber jetzt war die Stunde gekommen. Er stand wie angewurzelt auf dem moosigen Grund des Waldes und hielt den Atem an, und auch das Tier rührte sich nicht von der Stelle. Sie standen einander einfach nur gegenüber und sahen sich in die Augen. Leons Nacken versteifte sich, die Muskeln in seinen Beinen begannen, zu brennen, so dass er heilfroh war, als das Wildschwein auf einmal das Interesse verlor, einen Grunzer ausstiess, sich von ihm abwandte und im Gebüsch verschwand. Er atmete durch, wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte, beendete sein Frühstück und machte sich wieder auf den Weg. Nach einer guten Stunde lichtete sich der Wald. Das Blätterdach öffnete sich und gab den Blick frei auf den Berg, der aus der Nähe betrachtet noch viel höher erschien. Leon war ziemlich beeindruckt. Er hielt inne, legte den Kopf in den Nacken und schaute auf. Der Berg besass in der Tat eine fast vollkommene Kegelform und war gänzlich unbewachsen. Der nackte Fels schimmerte matt glänzend in der Sonne, die Oberfläche war von langen, tiefen Furchen durchzogen. Ganz oben verliefen die Furchen senkrecht nebeneinander, gegen unten verzweigten sie sich immer häufiger und gingen ineinander über - gerade so, als hätte der Berg einst bittere Tränen geweint.

      VI

      Die Sonne stand senkrecht über der Insel, als Leon den Gipfel des Berges erreichte, eine erstaunlich ebene Plattform, die so aussah, als wäre sie von Menschenhand geschaffen worden. Der Schweiss lief in Strömen über seinen Rücken, seine Zunge klebte am Gaumen fest. Er ging in die Hocke, stützte sich am Boden ab und atmete durch. Der Aufstieg hatte ihn ziemlich geschafft, obwohl er eigentlich ganz gut trainiert war. Er besuchte dreimal in der Woche das Fitnesszentrum. Vor vielen Jahren hatte er damit begonnen und konnte mittlerweile gar nicht mehr leben, ohne regelmässig zu trainieren. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Laufband. Die ausdauernde Bewegung tat ihm gut, er konnte sich verausgaben und fühlte sich danach immer viel entspannter. Aber jetzt war er einfach nur erschöpft, denn die Flanke des Berges hatte sich als steiler erwiesen, als sie von unten gewirkt hatte. Als er sich erholt hatte, stand er auf und schaute sich um. Das Meer lag ruhig und majestätisch unter ihm und warf das Licht der Sonne mit einem metallischen Glänzen zurück. Da und dort überschlug sich eine einsame Welle, nur Land war weit und breit nicht zu sehen. Er schirmte mit der Hand die Augen ab und drehte sich langsam um seine Achse. Sorgfältig suchte