III
Zu Beginn seiner Reise schwebten die Worte der Dame, die ihm die Fahrkarte verkauft hatte, noch eine ganze Weile durch seinen Kopf. Nur wo etwas stirbt, kann etwas Neues entstehen, hatte sie gesagt, doch waren es nicht allein diese Worte, die ihn beschäftigten, sondern vor allem der seelenlose Blick, der sie begleitet hatte. Er versuchte vergeblich, den tieferen Sinn dieser Worte zu erfassen - deren Bedeutung sollte ihm erst viel später bewusst werden -, und als die Eindrücke hinter der Fensterscheibe des Busses in immer schnellerer Folge ineinander übergingen, hatte er die Dame schon bald wieder vergessen - genau wie die Schwermut, die ihn an jenem Morgen erfasst hatte. Er schrieb seiner Mutter, seinem Vater und Jonas, seinem Kumpel, eine Kurznachricht und teilte ihnen mit, dass er für eine Weile verreisen würde. Sie würden sich keine Sorgen machen um ihn, auch wenn es das erste Mal war, dass er die Stadt verliess - er war als Einzelkind aufgewachsen und hatte früh gelernt, auf sich aufzupassen. Nachdem er die Nachrichten geschrieben hatte, lehnte er sich zurück und genoss das Gefühl der Freiheit. Er reiste ohne eigentliches Ziel durch den Kontinent. Er besichtigte Städte, besuchte entlegene Dörfer und wanderte gelegentlich ein Stück durch die Natur. Doch obwohl er immer wieder auf nette Leute traf - in einer Stadt lernte er sogar ein Mädchen kennen, bei dem er zwei Tage übernachten durfte -, konnte er nirgendwo für längere Zeit verweilen. Irgendetwas zog ihn weiter. Irgendetwas liess ihn nicht zur Ruhe kommen, so dass er immer weiter nach Westen reiste. Er liess das Gebirge hinter sich, durchquerte die anschliessenden Wälder und fuhr durch die fruchtbaren Ebenen, in der sich die grossen Kornfelder befanden, bis er eines Tages auf die Küste stiess. Er hatte das Meer noch nie zuvor gesehen, so dass er sich an seinem Anblick sehr erfreute. Aber da ihm die Stadt, in der er angekommen war, nicht sonderlich gefiel, bestieg er einen weiteren Bus und gelangte in ein beschauliches Fischerdorf. Er stieg aus, schaute sich um und stellte fest, dass er das Dorf von Anfang an mochte. Zwar waren die Häuser zerfallen und die Strassen schmutzig, aber die Luft war so frisch, dass sie in seiner Nase kitzelte. Gegen Abend nahm er sich ein Zimmer, warf den Mantel und die Tasche, in der er seine Ersatzkleider mitführte, auf das Bett und suchte die einzige Kneipe auf, die er bei seinem Rundgang entdeckt hatte.
Nachdem er zwei Flaschen Bier getrunken und drei Zigaretten geraucht hatte, beschloss er, eine Weile in diesem Dorf zu bleiben und sich eine Arbeit zu suchen. Er schaute sich um. Die Kneipe wurde von Öllampen, die von der niedrigen Decke hingen, beleuchtet und war entsprechend düster. Ein alter Mann mit eingefallenen Wangen und hängenden Schultern war - ausser ihm - der einzige Gast. Er sass in einer Ecke und starrte auf das halbvolle Glas, das vor ihm auf dem Tisch stand. Leon erhob sich von seinem Hocker, setzte sich zu ihm und stellte sich vor.
"Entschuldigen Sie, mein Name ist Leon, und ich suche Arbeit. Können Sie mir vielleicht helfen?"
Der Mann hob den Kopf, schaute ihn mit grossen Augen an und begann zu kichern. "Arbeit gibt es hier nicht", sagte er und wurde augenblicklich wieder ernst, "Arbeit gibt es nur noch in der Stadt."
"Aber mir gefällt es hier, ich würde gerne eine Weile bleiben. Es wird doch wohl irgendetwas zu tun geben in diesem Dorf?"
Der Mann musterte ihn misstrauisch. "Dir gefällt es hier?"
"Aber ja, mir gefällt es hier sehr gut, die Luft ist so frisch, und..."
"Oh ja, in der Tat, die Luft", seufzte der Mann, "ich wünschte, meine Söhne hätten das auch einmal gesagt."
Dann verstummte er und starrte wieder auf sein Glas. Seine Augen wurden feucht, während vereinzelte Tränen über die ledrige Haut in seinem Gesicht rannen.
"Es tut mir leid, wenn ich Sie aufgebracht habe", sagte Leon nach einer Weile, "aber gibt es nun Arbeit für mich oder nicht?"
Der Mann zuckte mit den Achseln und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Eine richtige Arbeit findest du hier nicht", sagte er traurig, "aber vielleicht kannst du mir ein wenig zur Hand gehen."
IV
Der Mann hiess Immanuel und war Fischer von Beruf. Er stand reglos im hölzernen Aufbau seines Bootes und sagte kein einziges Wort. Ganz im Gegensatz zum vergangenen Abend, an dem er doch noch ein wenig aus sich herausgekommen war und aus seinem Leben erzählt hatte. Seine Frau war früh verstorben, seine Söhne hatten ihn bald darauf verlassen und waren in die Stadt gezogen. Dass sie ihn nur selten besuchten, war ihm nur recht, denn er hatte ihnen nie verziehen, dass sie ihn einfach im Stich gelassen hatten. Er hatte mehrmals betont, dass er selber sein Heimatdorf niemals verlassen würde, nicht einmal dann, wenn der letzte Fisch gefangen sei. Das sei er seinen Vorfahren schuldig, hatte er gesagt, eher würde er sterben, als auf einem der grossen Kutter anzuheuern, die von der Stadt aus ins Meer stachen und ihre industrielle Fischerei betrieben. Er hatte erzählt, dass er vor einigen Jahren einen Verein gegründet hatte, der sich für die Interessen der kleinen Fischer einsetzte und ihnen eine Stimme gab, wenn es galt, bei der jährlichen Konferenz die Fangquoten auszuhandeln, dass der Verein aber leider wenig erfolgreich war. Er hatte sich gehörig ereifert, und mit jedem Bier, das ihm Leon bezahlt hatte, war sein Ärger grösser und seine Stimme lauter geworden. Er war aufgestanden, hatte mit den Armen gefuchtelt und mit der Faust auf den Tisch geschlagen, und zwar so heftig, dass Leon die leeren Gläser festhalten musste. Und jetzt stand er mit zerkniffenem Gesicht am Steuerruder, richtete den Blick geradeaus und schien seinen neuen Gehilfen überhaupt nicht zu beachten. Doch Leon bekümmerte dies wenig. Er lag bäuchlings auf dem Bug des Bootes und sog die frische Meeresluft in seine Lunge, während er die Gischt betrachtete, die den Rumpf des Bootes umspülte. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, wenn er sich vorstellte, dass unter ihm nur noch Wasser war. Doch glücklicherweise war das Meer an jenem Tag so glatt wie ein Spiegel, so dass er sich schnell an die neuen Umstände gewöhnte. Links und rechts von ihnen fuhren weitere Boote hinaus, entfernten sich langsam und strebten ihren eigenen Fangplätzen zu. Etwas weiter weg schwebten ein paar kleine, felsige Inseln auf dem Wasser, am Horizont war ein Tanker zu sehen, der immer kleiner wurde und schon fast hinter der Krümmung des Erdballs verschwunden war. Leon schaute dem Tanker nach, während er sich fragte, wohin ihn sein eigener Weg führen würde. Er war an den westlichen Rand des Kontinents gestossen, weiter würde er nicht kommen. Zwar mochte er das Dorf, in dem er gelandet war, ganz gut, doch länger als ein paar Wochen würde er trotzdem nicht bleiben. Zum Einen würde er nicht genug verdienen, zum Anderen würde er sich sicher bald langweilen. Doch die Aussicht, in die Stadt zurückzukehren, reizte ihn auch nicht besonders. Er seufzte, lauschte dem eintönig knatternden Motor des Bootes, schloss die Augen und beschloss, erst einmal abzuwarten, was ihm das Schicksal brachte.
Gegen neun Uhr erreichte das Boot eine Stelle, die zwischen zwei kleinen, unbewohnten Inseln lag. Immanuel drückte so lange auf den rostroten Knopf neben dem Steuerruder, bis der Motor mit einem Husten erstarb. Er verliess den Aufbau, öffnete eine Luke und nahm einen Plastikeimer heraus, der mit Köderfischen gefüllt war. Er nahm eine Angelrute zur Hand - er besass insgesamt fünf -, drehte an der Rolle und überprüfte, ob die Schnur reibungslos durch die Führungsringe lief. Dann befestigte er einen der Fische am Haken, hielt die Rute mit beiden Händen fest, liess den Köder einige Male über seinem Kopf kreisen und schleuderte ihn in einem hohen Bogen ins Meer hinaus. Schliesslich steckte er die Rute in die eigens dafür gefertigte Halterung an der Reling, betrachtete eine Weile den Punkt, an dem die Schnur ins Wasser tauchte, und schaute auf.
"Hast du mir zugeschaut?", fragte er und kniff seine Augen zusammen.
"Natürlich, ich..."
"Dann zeig, was du gelernt hast!"
Leon hob die zweite Angel auf, überprüfte sie, wie er es bei Immanuel gesehen hatte, befestigte den Köder am Haken, liess ihn über seinem Kopf kreisen und schleuderte ihn ins Meer hinaus. Der Köder flog sogar noch etwas weiter als derjenige, den Immanuel geworfen hatte.
"Zufrieden?", fragte er und schaute lächelnd auf den alten Fischer hinab.
"Nicht schlecht fürs Erste", brummte dieser und bückte sich nach der nächsten Angel, "aber der schwierige