"Vielen Dank, ich..., ich weiss gar nicht, wie ich dir dafür danken kann, ich..."
Amon nickte, während er ein paar unverständliche Worte brummte. Er trat von einem Fuss auf den anderen und blickte Leon unverwandt in die Augen.
"Hast du noch einen anderen Mann gesehen?", fragte Leon.
Amon schüttelte stumm seinen Kopf.
"Hast du sonst etwas gesehen? Eine Planke? Ein Fass? Irgendetwas, das auf ein gesunkenes Boot hindeutet?"
"Nein", erwiderte Amon unwillig, "du warst alleine, und sonst war da gar nichts."
Leon sank enttäuscht in seinen Stuhl zurück und rieb sich das Kinn. "Ich muss zurück aufs Festland", sagte er schliesslich, "ich muss wissen, wie es Immanuel geht. Ich muss ihm mitteilen, dass ich den Sturm überlebt habe, sonst macht er sich noch unnötige Sorgen."
"Das Festland?", sagte Elias und schob seine buschigen Augenbrauen zusammen.
"Du hast richtig gehört, das Festland."
"Ich weiss nicht genau, was du damit meinst."
"Du weisst nicht, was das Festland ist?", fragte Leon und richtete sich auf. "Willst du mich auf den Arm nehmen?"
"Ich will dich ganz bestimmt nicht auf den Arm nehmen", erwiderte Elias, wobei er die letzten Worte mit einem gewissen Unwillen aussprach, "erklär mir doch einfach, was du damit meinst."
Leon lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke, während er sich überlegte, ob er dem alten Mann tatsächlich erklären sollte, was das Festland war. Schliesslich stiess er einen Seufzer aus, beugte sich vor, legte die Hände auf seine Oberschenkel und sah Elias tief in die Augen.
"Also gut", sagte er und presste die Lippen zusammen, "das Festland ist die grosse Insel, die direkt vor eurer Nase liegt, irgendwo im Osten nehme ich an. Sie ist riesig. Sie ist nicht zu übersehen, und sie..., ihr müsst sie ganz einfach kennen!"
Elias legte seine knorrigen Hände auf den Tisch und betrachtete sie eine ganze Weile.
"Es gibt kein Festland", sagte er schliesslich und hob den Kopf, "es gibt nur Magnor und Ellenor."
"Magnor?", rief Leon erstaunt, "und Ellenor?"
"Magnor ist die Insel, auf der du dich im Moment befindest", erwiderte Elias ungerührt, "und Ellenor ist die Insel, von der wir stammen."
Leon lachte auf und schaute prüfend in die Runde, doch die Gesichter blieben ernst. "Aber das Festland müsst ihr doch kennen!", beharrte er.
"Es gibt kein Festland", wiederholte Elias ruhig, "das kannst du mir glauben."
"Aber ich komme vom Festland!", rief Leon ungläubig, "ich weiss, dass da draussen das Festland ist! Da draussen liegt eine riesige Insel! Sie ist ganz nah, nur ein paar Stunden von hier entfernt!"
Elias hatte ihm geduldig zugehört und ihn mitleidig betrachtet, wie man ein Kind betrachtet, das noch immer an den Weihnachtsmann glaubt. "Beruhige dich", sagte er, "es ist ganz normal, dass du nach der langen Reise ein wenig durcheinander bist, ich kann das verstehen. Aber ich sage dir noch einmal: Da draussen ist kein Festland! Da draussen ist nur noch Ellenor, und diese Insel liegt in weiter Ferne."
Leon wandte den Kopf und blickte nacheinander zu Amon, zu dessen Frau und zu dem Mädchen. Sie sagten nichts und nickten nur mit ernsten Gesichtern.
"Aber das ist doch ...", rief Leon und schüttelte den Kopf, "ihr könnt mir doch nicht erzählen, dass ihr noch nie etwas vom Festland gehört habt?"
Die Gesichter blieben ernst. Das Mädchen klammerte sich an den Rock der Frau, Amon blickte unruhig von Leon zu Elias und wieder zurück, gerade so, als wolle er den Eindringling endlich loswerden. Elias schien das Zeichen zu verstehen, erhob sich von seinem Stuhl und griff nach seinen Stock.
"Komm mit", sagte er zu Leon, "hier kannst du nicht bleiben. Ich werde dir jetzt dein Haus zuweisen."
"Mein Haus?", rief Leon und weitete die Augen, "ich..., ich will aber kein Haus! Ich will zurück aufs Festland!"
"Beruhige dich und ruh dich erst einmal aus", entgegnete Elias und legte ihm die Hand auf den Arm, "ich kann dir versichern, dass du dich sehr schnell an deine neue Heimat gewöhnen wirst."
II
Mein Haus? Meine neue Heimat?, dachte Leon, als er Elias folgte, der sich trotz des Stockes erstaunlich behände durch das Dorf bewegte. Was fällt diesem Kerl eigentlich ein? Er hatte grosse Lust, davonzulaufen, entschied sich aber dagegen, weil er ja doch nicht wusste, wohin er sich hätte wenden sollen. Die meisten Häuser waren klein und besassen einen rechteckigen Grundriss, einige waren etwas grösser und bestanden aus mehreren, verwinkelten Teilen. Die Wände bestanden aus aufeinandergeschichteten Steinen, die Dächer waren aus Steinplatten zusammengesetzt. Während Leon hinter Elias herging, reckte er den Hals und versuchte, sich zu orientieren. Die Sonne war nicht mehr zu sehen. Es dämmerte, zwischen den Mauern hatten sich dunkle Schatten ausgebreitet. Da und dort schimmerte das Meer zwischen den Häusern hindurch, und im Inselinnern, über den Dächern, zeichnete sich ein spitz zulaufender Berg gegen die Dämmerung ab. Sie gingen über den felsigen, an manchen Stellen mit Moos überwachsenen Boden und gelangten auf einen Platz, auf dem sich - angeordnet in einem Kreis - mehrere Feuerstellen befanden. Auf dem Platz herrschte eine rege Betriebsamkeit. Die Frauen rührten mit langen Kellen in den Kesseln, die auf den Gluten standen, die Männer schleppten einen Korb nach dem anderen herbei und schütteten den Inhalt in die Kessel, die Kinder sassen um die Feuerstellen herum und spielten mit ihren Holzfiguren. Leon bemerkte, dass die Männer allesamt einen metallenen, etwa drei Finger breiten Armreif trugen, denselben Armreif, den er schon bei Elias und bei Amon gesehen hatte. Doch konnte er sich nicht lange darüber aufhalten, denn Elias hatte den Platz bereits überquert. Er beeilte sich, den alten Mann einzuholen und folgte ihm zwischen weiteren Häusern hindurch, über eine Brücke, die einen Bach überspannte, bis zu einem kleinen Haus am äussersten Rand des Dorfes. Elias stiess die Tür auf, verschwand im Innern des Hauses und kam kurze Zeit später mit einer Kerze heraus. Er ging zum Nachbarhaus hinüber, klopfte an die Tür und bat den Bewohner, ihm die Kerze zu entzünden. Vorsichtig, die Hand schützend um die Flamme haltend, kam er zurück, trat ins Haus und bedeutete Leon, ihm zu folgen.
Das Haus bestand aus einem einzigen Raum. Es gab ein Bett, einen Tisch mit zwei Stühlen, ein einfaches Holzgestell sowie drei Fenster, deren Läden geschlossen waren. Leon warf seine alten, zerrissenen Kleider auf das Bett, setzte sich auf einen der Stühle und betrachtete Elias, der sich - nachdem er die Kerze auf dem Tisch befestigt hatte - am Gestell zu schaffen machte. Es sah so aus, als wolle er überprüfen, ob alles vorhanden war, was man zum Leben brauchte. Leon wartete geduldig, bis er damit fertig war und bat ihn dann, sich zu ihm zu setzen.
"Sieh mal, Elias", sagte er und schaute dem alten Mann fest in die Augen, "ich weiss wirklich zu schätzen, was ihr für mich getan habt, und ich möchte mich an dieser Stelle herzlich dafür bedanken!" Er nahm einen tiefen Atemzug. "Aber ihr könnt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ihr noch nie etwas vom Festland gehört habt! Ich meine, ich weiss, dass da draussen das Festland liegt, daran gibt es keinen Zweifel. Schliesslich wurde ich dort geboren, und ich weiss, dass vor der Küste viele Boote verkehren, und da kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass ihr noch nie etwas davon bemerkt habt."
Elias schüttelte langsam den Kopf, während er die Lippen aufeinanderpresste. "Es ist so, wie ich es dir gesagt habe", sagte er ruhig, aber bestimmt, "es gibt kein Festland. Es gibt nur Magnor und Ellenor, und ich bin mir sicher, dass du es genau so sehen wirst, wenn du dich von der langen Reise erholt hast."
"Von der langen Reise? Woher bin ich denn deiner Meinung nach gekommen?"
"Von Ellenor. Wir alle sind von Ellenor gekommen."
Leon lachte auf und klatschte in die Hände. "Von Ellenor also! Du musst es ja wissen." Er fuhr mit Daumen und Zeigefinger