Nach Hause ist für mich inzwischen nicht mehr eindeutig. Offiziell wohne ich noch bei Großvater auf dem Weingut und dort schlafe ich auch meistens. Aber nach Hause bedeutet für mich auch das Herrenhaus von Pierre. Ich übernachte dort, wenn es sich einrichten lässt. Großvater hat sich zwar inzwischen daran gewöhnt, dass Pierre mein Freund ist, aber er hat eine reichlich konservative Einstellung, weswegen er es nicht gut aufnimmt, wenn er mitbekommt, dass ich mit Pierre ins Bett gehe.
Ich könnte der ganzen Diskussion entgehen, wenn ich Pierre einfach heiraten würde, einen Antrag dafür hat er mir schon gemacht, als wir gerade einen Tag zusammen waren. Pierre ist mittlerweile fast neunzig Jahre alt, er stammt aus einer Zeit, wo es selbstverständlich war, dass man heiratet, wenn man es ernst miteinander meint. Aber als unsere Beziehung frisch war, dachte ich noch ganz in den Bahnen der Jugendlichen von heute, deshalb habe ich mich dagegen gesträubt, so schnell eine Ehe einzugehen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, das sei zu schnell für eine Entscheidung, die ein Leben lang halten soll.
Nun bin ich schon eineinhalb Jahre mit Pierre zusammen, immer noch so glücklich, wie am ersten Tag und fange an zu sehen, dass eine Entscheidung für eine Ehe immer ein Sprung ins Dunkel ist, egal, ob man sie schnell trifft oder ob man es sich lange überlegt. Was weiß ich schon, was die Zukunft bringt. Pierre ist in unserer Beziehung der Starke, derjenige, der Erfahrung hat, der die Dinge in die Wege leitet. Aber er hat mir die Freiheit gelassen, meinen Weg einzuschlagen, zu studieren, alleine in einer Stadt zu leben, in der auch Vampire zu Hause sind.
Gerade der letzte Punkt hat Pierre einige Sorgen gemacht. Als wir zu Beginn unserer Beziehung mit Gregori konfrontiert waren, konnten wir nur deswegen unbeschadet aus der Sache herauskommen, weil Pierre in Tante Annas Clan eingetreten ist. Damit gehört er faktisch einem nicht-europäischen Clan an, auch wenn er von Geburt und vom Herzen her immer ein Franzose war. Die Vampire hier in Montpellier gehören zu den europäischen Clans, die ein Mitglied des Clans der Auserwählten nicht dauerhaft in ihrer Stadt dulden würden.
Aber genau genommen bin ich ja kein Vampir, ich bin als Pierres Blutgefährtin mit ihm nur assoziiert. Solange ich keinen Kontakt zu den hiesigen Vampiren pflege oder mich sonst wie in die vampirischen Angelegenheiten mische, sollte es keine Probleme geben. Also hat mich Pierre nur auf die Orte aufmerksam gemacht, an denen Vampire sich treffen und ich habe ihm versprochen, diese Orte zu meiden. Nur auf diese Weise konnte ich Pierres Zustimmung erhalten, meinen Traum vom Studium in Erfüllung gehen zu lassen.
Mit der Zeit hat sich dann ein Gleichgewicht eingestellt zwischen Studium, Pierre, mir und Großvater. Ich möchte Großvater auf keinen Fall alleine lassen, denn ich bin für ihn verantwortlich, seit Großmutter vor ein paar Jahren an Krebs gestorben ist. Tante Anna ist zwar seine Tochter, aber als Vampirin muss sie sich von ihm distanziert halten, zumal sie als Auserwählte sehr viele Verpflichtungen hat. Also bin ich die einzige Verwandte, die er noch hat und ich möchte bei ihm bleiben, bis er Großmutter hinterhergeht.
Zu den Dingen, die sich zu einer Gewohnheit entwickelt haben, gehört, dass ich am Freitag zuerst zu Pierre fahre. Der Butler von Pierre, Charles, kocht nicht nur für sein Leben gern, sondern auch noch ganz hervorragend. Nur ist diese Kunst an Pierre völlig verschwendet, denn Vampire können keine feste Nahrung zu sich nehmen. Also mache ich Charles geradewegs eine Freude, wenn ich bei ihm esse und ich sehe immer zu, dass ich rechtzeitig genug in Lourges bin, um bei Pierre Mittag essen zu können.
Daher rufe ich kurz bei ihm an, nachdem die Vorlesung beendet ist, und mache mich auf den Weg. Wenn die Straßen frei sind, kann ich in zweieinhalb Stunden in Lorgues sein. Zunächst ist mir das Glück nicht hold, denn die Ausfallstraßen um Montpellier sind ziemlich verstopft, aber kaum habe ich den Großstadtbereich hinter mir, geht es zügig voran. So erreiche ich das Chateau de Marroniers mit nur zehn Minuten Verspätung.
Ich stelle den Wagen in der Kastanienreihe vor der Mauer ab, die sich um das Chateau herumzieht, schließlich will ich nachher noch zum Weingut fahren. Dann nehme ich den Beutel mit meiner neuen Abendgarderobe auf, die will ich morgen hier anziehen, wenn wir uns für den Empfang fertig machen müssen. Natürlich habe ich einen Schlüssel für den Eingang, aber Charles hat mich gehört, denn er steht in der Tür, als ich mich dem Haupthaus nähere.
«Guten Tag Mademoiselle. Willkommen im Chateau.»
Charles ist ein älterer Herr, Mitte fünfzig und schon über zwanzig Jahre im Dienst von Pierre. Eigentlich war er mal Vampirjäger und hatte Pierre töten wollen, aber Pierre konnte ihn stoppen und davon überzeugen, dass nicht alle Vampire Monster sind. Als Konsequenz ist Charles dann zu Pierres Butler geworden. Mit seiner sanften und freundlichen Art habe ich ihn auch sofort in mein Herz geschlossen und bin froh, dass er da ist und ein Auge auf Pierre hat, während ich in Montpellier bin. Seit den Ereignissen um Gregori ist er allerdings deutlich langsamer geworden. Er wurde damals von Gregoris Leuten überfallen und schwer verletzt und hat Monate gebraucht, um wieder einigermaßen gesund zu werden. Auch er wäre jetzt tot, wenn ihm Tante Anna nicht das Leben gerettet hätte.
Ich lächele ihn an.
«Danke Charles. Ist Pierre da?»
«Ja, Monsieur ist im Büro. Kann ich ihnen die Kleidung abnehmen.»
«Ja, gerne. Bitte bringen Sie sie nach oben. Das ist meine neue Abendgarderobe für morgen.»
Ich könnte die Sachen natürlich auch selbst nach oben bringen, aber ich würde Charles damit tödlich beleidigen. Er nimmt seine Rolle als Butler sehr ernst und duldet keine modernen Anwandlungen, auch nicht von mir. Dasselbe gilt für die Sprache, mit der man miteinander redet. Charles ist für mich eigentlich wie ein Freund oder gar ein Vertrauter, ähnlich wie Catherine, unsere Haushälterin, die nach dem Tod von Großmutter eine mütterliche Rolle mir gegenüber übernommen hat. Das heißt aber nicht, dass man mit Charles auch vertraut reden sollte. Also habe ich mich daran gewöhnt, mich von Charles bedienen zu lassen und benutze diese alten Sprachformen, auf die er so viel Wert legt.
«Sehr wohl Mademoiselle. Das Essen ist in einer Viertelstunde fertig.»
«Danke, Charles.»
Während Charles die Treppe nach oben nimmt, gehe ich zum Büro, das im hinteren Teil des Herrenhauses liegt. Ich hatte am Anfang nicht verstanden, wieso Pierre ein so riesiges Haus benötigt, das er alleine mit Charles bewohnt, aber inzwischen ist mir klar geworden, dass alle Vampire gerne in großen Anwesen wohnen. Die Anzahl der Menschen, die um die übernatürliche Welt wissen, ist klein und zu enger Kontakt mit den Nachbarn wäre nicht gut, weil die Eigenheiten des Vampirdaseins schnell auffallen würden.
Also bleiben Vampire gerne unter sich, höchstens begleitet von den engsten menschlichen Vertrauten oder Dienern. Ich habe das Glück, von Pierre als gleichberechtigte Gefährtin angesehen zu werden, häufig genug ist die Beziehung eines Vampirs zu seinem Blutwirt eher die eines Herrn zu seinem Sklaven. Aber deshalb liebe ich Pierre auch so. So gerne ich das genieße, was er im Bett zu bieten hat, das allein wäre für mich niemals Grund genug, bei ihm zu bleiben. Doch Pierre und mich verbindet mehr, das habe ich schon gespürt, als ich noch gar nicht wusste, was Pierre ist.
Als ich das Büro betrete, sitzt Pierre am Computer und geht eine Liste durch. Er hat mich selbstverständlich schon gehört, blickt aber weiter konzentriert auf den Bildschirm. Ich umarme ihn von hinten und flüstere in sein Ohr.
«Hey du Monster. Hast du schon genug von mir, dass diese blöde Liste wichtiger ist als ich?»
Mit einer schnellen Bewegung wirbelt Pierre mich herum, so dass ich mit einem quiekenden Laut auf seinen Schoß plumpse. Dann verschließt er meinen Mund mit einem Kuss und die Welt verschwindet in einem Wirbelsturm von Hitze und Feuer. Die Augen von Pierre blitzen gelb als wir uns irgendwann wieder voneinander lösen.
«Nichts ist wichtiger als du.» flüstert Pierre und ich höre ein Begehren in seiner Stimme, das wiederspiegelt, was ich selbst empfinde. Sanft streichele ich über sein wunderschönes Gesicht.
«Willst du zuerst etwas essen?»
Mein Puls rast, im Moment wäre es mir