Zerrissen. Andreas Osinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Osinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847689928
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gab es ja auch eine ganz einfache Erklärung für alles. Ein Verkehrsunfall, ein plötzlicher Termin. Irgendetwas, was die alltägliche Routine unterbrochen hatte. Ich griff mit meiner Linken zur Seite und nahm die angebrochene Schachtel Benson & Hedges aus dem Seitenfach meiner Wagentür. Ich hatte sie vorsichtshalber nicht wieder in das stets aufgeräumte Handschuhfach zurückgelegt, sondern in der Nähe behalten. Der kluge Mann baut vor! Mit zwei Fingern fischte ich eine Zigarette aus der Schachtel, hielt das kleine grüne Einwegfeuerzeug an das hintere Ende der Zigarette und sog den Rauch gierig ein. Mit einer schnellen Bewegung meiner linken kurbelte ich das Seitenfenster des Wagens halb herunter. Ein kalter und schneidender Windzug stellte sich meinem Gesicht entgegen und durchpflügte in unbarmherziger Weise mein Haar. Ich genoß es, denn der Fahrtwind kühlte und erfrischte mein arg strapaziertes Gehirn. Das war auch gut so, denn ich hatte so eine Ahnung, daß ein kühler Kopf bei dem bevorstehenden Gespräch mit Lisa Warbs durchaus angebracht sein würde. Eine Entführung war eigentlich mit das Schrecklichste, was man einem Menschen antun konnte, ging es mir durch den Kopf, während ich die Zigarette aus dem Mundwinkel zog. Da kam jemand daher, nahm jemandem einen anderen Menschen weg und sagte dann sinngemäß: „Du bekommst diesen Menschen nur wieder, wenn du eine bestimmte Geldsumme zahlst. “Das Entführungopfer wurde einfach auf einen bestimmten Marktwert reduziert, und der andere konnte sehen, wie er diese Summe zusammenbekam. So gab es eigentlich zwei Opfer: Der Entführte, der um seine Gesundheit bangte und der mit Sicherheit die schrecklichsten Stunden seines Lebens durchmachte und der andere, der sich Sorgen darum machte, ob er seinen geliebten Menschen jemals wiedersehen würde. Und noch eines machte die Sache äußerst schwierig: Die quälende Ungewißheit. Bei einem Unfall oder einem Tötungsdelikt konnte man auf den Punkt gebracht einfach sagen: „Er ist tot. Je schneller Du dich daran gewöhnst, desto besser für dich!“ Natürlich nicht so direkt, sondern mit ein paar hübschen und tröstenden Worten. Bei einer Entführung konnte man überhaupt nichts sagen. Man konnte nur warten. Warten und hoffen. Das Einzige was man tun konnte, war die Alternativen anzudenken und die Unangenehmere einfach zu verdrängen! Und war es schon besser, wenn wenigstens einer den kühlen Kopf behielt. Und den würde ich haben, nahm ich mir vor, während ich die halbgerauchte Zigarette aus dem Mundwinkel zog und mit Daumen und Zeigefinger durch den Fensterspalt nach draußen schnippte. Ich verließ die Stadtautobahn nach weiteren zehn Minuten und gelangte in den Vorort unserer Stadt, in dem die Creme de la Creme wohnte, oder besser gesagt „zu residieren“ pflegte. Eine Wohngegend mit Häusern knapp unterhalb der Milliongrenze. Die Villen lagen alle irgendwie an ein und demselben künstlichen See und waren durch eine Vielzahl adretter aber zum Teil wirklich überflüssiger Straßen miteinander vernetzt. Es war ein autarkes Gebilde mit mehreren Feinkostgeschäften, einem Antiquitätengeschäft mehreren kostspieligen Boutiquen sowie dem obligatorischen Getränkemarkt. Ich lenkte meinen Wagen mit Schrittgeschwindigkeit in die Straße, die Lisa Warbs mir während unseres Telefonats genannt hatte und stoppte den Mercedes vor dem Anwesen mit der Nummer acht. Vor meinen Augen erhob sich ein mächtiges schwarzes Eingangstor, an das sich rechts und links gemauerte Säulen anschlossen. Die Laternen darauf brannten und tauchten den Straßenbereich in ein trübes Licht. Ich blickte mich kurz um, schloß das Seitenfenster meines Wagens und stieg aus. Mit wenigen Schritten trat ich vor das schmiedeeiserne Tor und drückte die wuchtige Klinke des linken Flügels herunter.

      Kapitel 4

      „Herr Hayenfeldt? Kommen Sie bitte herein!“ waren die leisen Worte, mit denen mich eine sehr elegant aussehende Lady so um Mitte Vierzig an der Eingangstür empfing, nachdem ich den messingfarbenen Türklopfer mehrfach gegen das weißschimmernde Holz geschlagen hatte. Und zwar genau so lang, bis in mir die sichere Erkenntnis herangereift war, daß der Löwenkopf in der Mitte des Türblattes ganz offensichtlich kein Zierobjekt darstellte! Mir gegenüber stand eine Dame, die nach meiner ersten Einschätzung niemand anderes als Lisa Warbs selbst sein konnte. Schon beim ersten ihrer leisen Worte hatte ich die gleiche, symphatisch klingende Stimme wiedererkannt. Es war dieselbe Stimme, mit der ich noch vor wenigen Minuten telefoniert hatte und die mich möglicherweise überhaupt erst hatte hierher kommen lassen. „Guten Abend. Ich bin Lisa Warbs!“ fügte sie nach einer kurzen Pause mit leiser Stimme hinzu. Lisa Warbs machte einen kurzen Schritt zur Seite und gab mir so den Weg ins Innere des Hauses frei. Ihr schlanker Körper befand sich jetzt halb hinter der wuchtigen Eingangstür und von draußen sah es so aus, als ob sie dort Deckung suchte, sich versteckte. Jedenfalls wirkte das mächtige Türblatt wie ein überdimensionaler Schutzschild vor ihrem Körper.Kopfnickend und wortlos folgte ich ihrer Aufforderung und trat mit zwei großen Schritten in den hellgefliesten Vorflur. Mit einer fließenden Bewegung streckte ich ihr meine rechte Hand entgegen, während ich mit der anderen ein wenig unbeholfen nach der Türklinke tastete. „Guten Abend, Frau Warbs!“ murmelte ich -der Situation angemessen- ebenfalls mit leicht gedämpfter Stimme und schob mit meiner Linken die schwere Eingangstür hinter mir ins Schloß. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“ erklärte ich ihr, während ich die Schuhe auf der dunklen Fußmatte abstreifte. „Aber Sie wissen ja, der Verkehr....!“ fügte ich mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme hinzu. Lisa Warbs nickte verständnisvoll und schüttelte wortlos meine Hand. Ihr Händedruck war butterweich und kraftlos, die Handfläche feucht. Ich blickte zu ihr herunter und wartete einen kurzen Moment, während ich ihre rechte Hand weiterhin fest umschlossen hielt. Lisa Warbs trug eine weitgeschnittene weiße Seidenbluse mit eingewebten Rautenmuster, einen wadenlangen, enganliegenden Rock und flache Schuhe. Leicht gewelltes, braunes Haar umrahmte das ebenmäßige Gesicht und fiel mit einem leichten Schwung auf die schmalen Schultern. Sie hatte etwas Zerbrechliches an sich. Das Gesicht war blaß und müde. Und die geröteten Augen, die so gar nicht zu ihrer übrigen Ausstrahlung paßten, verrieten mir, daß sie noch vor kurzer Zeit geweint haben mußte. „Es geht schon.“ sagte sie ein wenig stockend und mit einem plötzlichen Lächeln auf den Lippen. Ein aufgesetztes Lächeln, das mir ganz offensichtlich den Eindruck vermitteln sollte, daß sie sich gut im Griff hatte und daß alles eigentlich halb so schlimm wäre. Ihre verquollenen Augen signalisierten mir allerdings ein völlig anderes Bild! Lisa Warbs wandte sich schnell zur Seite. Ich löste kurzerhand meinen Griff und stopfte die Hände ein wenig verlegen in die Hosentaschen meiner Jeans. Diese emotionsgeladenen Situationen waren nicht so mein Ding, wenn ich mal ehrlich war. Lieber observierte ich da vierundzwanzig Stunden am Stück verschwendungssüchtige Ehefrauen bei einer dieser ausgedehnten und ermüdenden Shopping-Touren in der City. Und das sogar bei sengender Hitze! Aber auch diese zwischenmenschlichen Dinge waren Teil meines Jobs. Der unangenehmere Teil, allerdings.Mit einer fahrig wirkenden Bewegung ihrer linken geleitete mich Lisa Warbs weiter in das Innere des Hauses. Der Weg führte uns durch eine verschwenderisch große Glastür in einen hell erleuchteten Flur, an dessen Seitenwänden unzählige metallgerahmte Grafiken hingen. Einige dieser Bilder hatte ich schon mal zuvor gesehen, in irgendeiner Zeitschrift. Die meisten sagten mir jedoch nicht viel, und ich schenkte ihnen keine weitere Beachtung. Gemälde mit röhrenden Hirschen vor einer schneebedeckten Gebirgslandschaft oder ein weißglänzendes Segelschiff auf hoher See, damit konnte ich ja noch etwas anfangen! Aber diese dreieckigen Farbtupfer -japanisch auf das absolute Minimum reduziert und dann als moderne Kunst deklariert- waren nicht so mein Geschmack. Jedenfalls ging ich davon aus, daß es wohl keine Kopien waren, die mir da in allen Farben der Welt und recht abstrakt von den Wänden entgegenschrien. Kleine punktförmige Scheinwerfer leuchteten von der hellvertäfelten Decke herab und tauchten den Fußboden in ein angenehm warmes Licht. Ich kam mir vor wie unter einem Sternenhimmel im Spätaugust und schaute für einen kurzen Moment nach oben. Das hätte ich besser nicht getan, denn vor meinen Augen schmolzen die einzelnen Lichtpunkte plötzlich zu einem einzigen gleißenden Lichtermeer zusammen. Die Helligkeit war unerträglich und geblendet kniff ich die Augen zusammen. Fast schon blitzartig wandte ich meinen Blick wieder nach unten und entdeckte tausende kleiner tanzender Lichtpunkte auf dem Fliesenboden vor mir. Und es dauerte einige Sekunden, bis ich durch den orange-violetten Punktenebel vor meinen Augen hindurch erkannte, daß Lisa Warbs leicht schwankte, als sie den endlos erscheinenden Flur entlangging. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand, noch immer halbblind mit zugekniffenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht. Nur das eintönige Klacken ihrer Absätze hallte durch den Raum und brannte sich förmlich in mein Gehirn. Lisa Warbs stoppte am Ende des Korridors, wandte sich mit einer schnellen Drehung nach links und öffnete eine weißlackierte Zimmertür. Sie blieb