Kapitän Wiese klopft an das Wetterglas. „Schlecht, sogar höchst bedenklich, wie das Barometer immer noch weiter fällt. Ausgerechnet am Weihnachtsabend! Gut dass unsere Muttis das nicht ahnen, was Maruhn? Sie lachen beide, und der Quartermeister, der Mann am Ruder, grinst mir. Seine Braut da oben im Holsteinischen, die stellt jetzt wohl gerade vorm Anzünden des Weihnachtsbaumes den Rundfunk an und hört von der Sturmwarnung für alle westeuropäischen Küsten: „Sturmtief aus dem Atlantik zieht in Richtung auf die Biscaya“. Never mind, was ein richtiger Seemann ist – das bisschen Sturm auf so einem sicheren, fast neuem Schiff, das erst seine vierte Reise macht, erst im September, vor vier Monaten, pieksauber von der Werft abgeliefert wurde!
Hauptsache, dass es einen ordentlich steifen Grog gibt nachher bei der Ablösung! Verdammt, es ist ja doch eine fürchterliche Quälerei für die Eingeweide, tagelang dieses unvorstellbare Aufbäumen des ganzen Schiffes und das tiefe Zurückschlagen in die Wellentäler, dass es selbst oben auf der Brücke aussieht, als sollte man in den Wasserbergen begraben werden!
Nach einem Rundblick steigt Kapitän Wiese wieder den anheimelnd eingerichteten Niedergang hinunter, der die Kapitäns- und Offiziersräume, die Lotsenkammer und das Badezimmer mit den Speiseräumen verbindet, und noch und noch ein Deck tiefer zu den Wohnkammern und Messen der Ingenieure, Aspiranten und Elektriker führt und weiter zur Kombüse, die aber eine richtige Großküche ist, gleich hinter dem Maschinenraumschacht. Sonst geht der Kapitän ja fast nie in die Küche, aber den Weihnachtsbraten muss er doch noch inspizieren. Heute duftet es anders, als wenn es Erbsensuppe, Labskaus oder Curryreis gibt. Beier, der erste Koch, ist voll wehmütiger Klagen. Breitbeinig pendelt er am Herd, sich mit beiden Händen festkrampfend. „Die schöne Suppe, die ich heute kochen wollte – unmöglich! Die Pötte kann ich festklemmen, die Suppe aber nicht. Auch der Braten wird wohl ziemlich trocken ausfallen. Die Sauce ist schon außenbords gelaufen.“ Er zeigt auf die glitschigen Bodenfliesen, wo manches hin- und hergluckst, was eigentlich nicht frei herumlaufen sollte. „Dann müssen wir die Kehlen eben auf andere Weise anfeuchten“, lacht der hünenhafte Kapitän. „Heißes Wasser genug? Der Steward soll bald die Rumbuddeln öffnen!“
Allmählich, trotz wild tobender See, trotz tiefschwarzer Sturmnacht zieht doch etwas weihnachtliche Stimmung in die Gemüter der Besatzung. Die Männer, die an Deck und in der Maschine ihren Dienst tun müssen, sind in ihren Gedanken schon ein paar Stunden voraus, und die Freiwachen lassen es sich munden, trotz allem.
Kapitän Wiese ist zufrieden mit der Stimmung an Bord und mit dem Schiff. Draußen tost es, in Masten, Wanten, Tauwerk und Antennen heult immer wieder der Orkan in höchsten Pfeiftönen auf. Das Schiff hebt sich und fällt schwer von Welle zu Welle in Abgründe, die fast so lang sind wie der ganze Schiffsrumpf, aber es ist einwandfrei seetüchtig, außen und innen. Unbeirrt hält es seinen Generalkurs in Richtung Heimat bei, in gleichbleibendem Rhythmus stampft es durch eine entfesselte Weihnachtsnacht.
Am zweiten Weihnachtstag ist es schlimmer geworden statt besser. Niemand hatte sich vorstellen können, dass die See noch höher, noch gröber werden könnte! Und die Wetternachrichten, die vom Funkoffizier Heinen in der Funkbude unentwegt abgehört werden, versprechen nicht die geringste Aussicht auf ein Abflauen dieses Orkans.
Bald muss es Mittag sein. Die Kapitänswache, die durch den 3. Offizier Andersen wahrgenommen wird, geht auf das Ende zu, denn sechs Glasen, das ist 11 Uhr, ist schon angeschlagen. Noch eine Stunde! Kapitän Wiese kommt aus dem Kartenzimmer, wo er noch einmal den genauen Schiffskurs zu ermitteln versucht hat. Seit Tagen war keine Möglichkeit, die Sonne oder einige Sterne zu „schießen“, das heißt, mit dem Sextanten „ein Besteck zu nehmen“, die astronomische Ortsbestimmung des Nautikers.
„Etwas hellt es im Süden auf, versuchen Sie es mal heute Mittag, Andersen. Bei dem Gieren haben wir sicher allerhand Versetzung vom alten Kurs.“ „Allright“, sagt Andersen und schaut wieder, wie so oft in diesen Tagen, von der freien Brückennock nach achtern, um zu erkennen, ob sich am Schaumstreifen ein wenig der Schiffsweg nachprüfen lässt. Nichts – jede neue Welle spült das Schraubenwasser sofort mit hinweg. Aber plötzlich – da – „Kapitän“, ruft der junge Andersen laut, kaum findet er im Sturm den Weg zurück ins Ruderhaus – um es geschwind zu sagen – „Kapitän“, da, der riesige Wellenberg – sehen Sie schnell“ und zeigt nach achtern. Eine ungeheure Woge läuft das Schiff schräg von der Seite an, so wuchtig die anderen überragend, als wolle sie alles, aber auch alles unter sich begraben. Kapitän Wiese stürzt aus dem Ruderhaus, gerade noch rechtzeitig genug, um selbst Zeuge des Geschehens zu werden. „Mein Gott!“, ruft er. Dann – ehe sich das Achterschiff genügend auf den heranwuchtenden Wasserberg heraufheben kann, überrollt die berstende grüne See die gesamten Aufbauten achtern auf der Poop, ein Rucken geht durch das ganze Schiff, Krachen, das noch das Sturmheulen übertönt, Holzteile splittern, und das Rettungsboot auf dem Heckaufbau ist auch verschwunden, als sich das Wasser verläuft. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, aber – was ist denn nur? Dreht das Schiff plötzlich völlig aus dem Kurs? Es legt sich quer in die See, schlingert entsetzlich. Der Rudermann dreht verstört an seinem Rad. Das Ruder – nein das ganze Schiff gehorcht nicht mehr! Rasselnd klingt auch der Maschinentelegraph auf der Brücke, und die Flöte, die vor dem Sprachrohr sitzt, pfeift aufgeregt und schrill. Der Hauptmotor wurde sofort gestoppt. Das hören sie schon am fehlenden Auspuffgeräusch des Schornsteins, der kurz und gedrungen unmittelbar an das Ruderhaus anschließt. Wiese springt an das Sprachrohr und legt sein Ohr an die Muschel. „Verdammte Kiste, Schraube und Ruder sind unklar, und das bei dem Wetter! Los Andersen, alle Offiziere auf die Brücke! Bootsmann Warnstedt soll melden, was achtern kaputt ist! Aber festhalten, festhalten!“ Andersen springt schon. „Alle Leute heil geblieben?“, ruft Wiese ihm noch nach. – Scha, Rudergast, kannst utscheiden, is nix mehr mit törnen, der Laden macht jetzt seinen Kurs alleine. Das war ’ne Wucht, was?
Wiese möchte lachen, aber Ernst und Verbissenheit werden stärker, als nacheinander seine Offiziere auf die Brücke klettern – das Treppensteigen im grauenvoll schlingernden Schiff kommt einer Bergpartie gleich. „Havarie, meine Herren“, ruft Wiese. Maschinen gestoppt, Schraube unklar, irgendwas muss achtern los sein.“
Der Leitende Ingenieur Dreeßen erscheint, die Stablampe noch in der Hand. „Der Maschinenassistent war gerade im Wellentunnel beim Lagerabfühlen“, berichtet er, „als es so hart metallisch krachte, als ob ein Wrackstück in die Schraube getrieben sei. Die Maschine ruckte bedenklich, so dass wir sofort stoppen mussten, wenn nicht alles auseinander fliegen sollte.“
Achtern beugen sich Andersen und der Bootsmann am Heck in Leeseite weit über die Reling, immer dann, wenn das Schiff sich gerade hoch aus dem Wasser hebt und das Deck nicht überspült ist. Jetzt rennt Andersen über das lange Achterdeck, so schnell es das Schlingern erlaubt. Mit ein paar Sätzen springt er die Leiter herauf. „Das Ruder!“, er schreit es atemlos und schon von weitem: „Das ganze Ruder ist weg! Stumpf abgebrochen - oben im Ruderschaft! Nichts mehr da!“ Auf dem Schiff ist die Hölle los, anders kann man das Auf und Ab, das Hin und Her, das unvorstellbare Schlingern des nun frei herumtanzenden steuerlosen Schiffes nicht bezeichnen. Überall in Kammern und Messen klirrt es, fallen aus Regalen und Borten Gegenstände, die als fest verankert angesehen wurden, und mit dem Essenkochen ist es nun ganz und gar aus. Die ADOLF LEONHARDT, dieses große, voll beladene, in allen Teilen neuzeitliche Schiff, ist zum Spielball der Sturmseen geworden, ohne jede Möglichkeit der Beeinflussung ist es dem Orkan, den Donnerschlägen der überrollenden Wogen preisgegeben.
Ein sofortiger Rundgang mit Offizieren, Leitendem Ingenieur, Boots- und Zimmermann, ergibt, dass die stählerne Schiffshaut, das Oberdeck, die Luken und Niedergangschotts heil sind. Das Schiff hat kein Leck. Eine Beruhigung auf den ersten Schreck! Kapitän Wiese fasst schnell seine Entschlüsse. Fremde Hilfe? Mehrere Schiffe sind in erreichbarer Nähe, wie Funkoffizier Heinen weiß. Aber wenn fremde Hilfe kommen muss, dann aus der Heimat, denn jede Hilfe kostet Geld! So geht ein Funktelegramm an die Reederei in Hamburg: ADOLF LEONHARDT