Irgendwann in den frühen Morgenstunden einigten wir uns. Wir wollten die Menschen sehen, denen es ähnlich ging wie uns, denn falls Lebœuf recht hatte, dürften wir nicht die Einzigen sein, die sich gerade mit solchen Diskussionen das Leben schwer machten. Am Fluss erwartete uns eine Überraschung. Die Menschen, die sich hier gruppiert hatten, es handelte sich um drei Deutsche untereinander verwandter Familien, trugen alles, was sie besaßen, entweder am Leib oder hatten es in einige Kisten verstaut, die sie unter schweren Regenplanen vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen suchten. Das kleine Lager war gepflegt. Alles in allem zählten wir ungefähr fünfundzwanzig Männer, Frauen und Kinder. Neugierig starrten sie uns entgegen: große Kinderaugen, skeptisches Frauenblinzeln, Augenspiele, prüfende, ja feindselige Blicke von Männern und großen Buben. Ein Mann, seine mächtigen Arme auf der breiten Brust verschränkt, versperrte uns schließlich den Weg. Er schien entschlossen, uns zur Rede zu stellen, was er auch tat.
»Was wollt ihr hier?«
Es klang alles andere als einladend, und so kam meine Antwort ebenso trocken.
»Nur mit euch reden, Monsieur!«
Der Mann nickte kaum merklich, seine Miene blieb jedoch verschlossen.
»Wir hörten, dass euer Ziel der obere Missouri ist, Fort Benton, die Ecke?«
Daraufhin sah er mich nur an, und ich war mir nach einer Weile gar nicht mehr so sicher, ob er mich überhaupt verstanden hatte.
»Nun«, ich deutete hinter mich, »dahin wollen wir nämlich auch. Vielleicht wäre es keine gar so schlechte Idee, wenn wir uns zusammentäten, schon allein wegen der Indianer.«
Noch während ich sprach, bemerkte ich, wie der Mann vor mir immerzu auf meine Waffe starrte, ein nagelneues französisches Infanterie-Gewehr von eindrucksvoller Länge. Wir hatten uns bei der Ankunft in St. Louis mit einem halben Dutzend dieser Gewehre eingedeckt, ein Muss, wollte man in diesem Land überleben, so viel wusste sogar ich. Was ich noch wusste: dass jedes dieser Gewehre jemandem auch über große Distanz hinweg den Arsch wegpusten konnte. Die Mündung zeigte genau auf die Körpermitte des Mannes, was wohl seinen bösen Gesichtsausdruck erklärte, und das wurde mir erst jetzt so richtig bewusst. Rasch senkte ich den Lauf. Ich sah mich im Lager um, erblickte aber nirgends auch nur eine einzige Waffe. Diese Leute hatten Angst, und es war diese Angst, die sie dazu trieb, uns gegenüber eine ablehnende Haltung einzunehmen.
Behutsam klopfte ich mit der Handfläche zweimal gegen den Schaft meines Gewehrs. »Glauben Sie, Sie könnten mit so einer Waffe umgehen?«
Die Augen meines Gegenübers blitzten kurz auf, was mir natürlich nicht entging. Er schien zu überlegen, war aber absolut nicht gewillt, mich an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen. Als ich die Schlacht längst verloren glaubte, geschah das Wunder.
Unser Clown Julius drängte sich an mir vorbei. Sein Clownskostüm glitzerte rot, grün und hellblau. Von seinem Hals baumelte eine Kette mit bunten, kleinen, lachenden Hundefratzen. Süß, lustig! Selbst ich musste lachen, als ich hinsah. Die mit Ölfarbe getünchten Bälle, die er im atemberaubenden Tempo jonglierte, wurden von großen Kinderaugen aufmerksam verfolgt. Die Kinder hatte ich zuerst gar nicht bemerkt, doch es waren so ziemlich ein Dutzend, von vier bis vierzehn Jahren, Jungen und Mädchen.
Ahhhh, Ohhhh!
Ich nutzte die Gelegenheit, trat einen Schritt vor und streckte dem verdutzten Mann die Waffe hin. »Es ist ein Geschenk, nein wirklich … wir können sie entbehren. Ich kann Ihnen auch erklären, wie sie funktioniert, wie man sie abfeuert und erneut lädt!«
Das war eine glatte Lüge, die mir aber leicht über die Lippen kam.
Kenneth stand plötzlich mit einer Flasche neben mir und grinste schelmisch.
»Echter französischer Cognac, kein verpanschtes Plumpsklowasser, das sie hier Whiskey nennen!«
Der Klotz vor mir grinste, das Eis war gebrochen.
Mit barscher Stimme sagte er etwas über seine Schulter hinweg auf Deutsch.
»Annemarie, Heidi, Waltraud! Wollt ihr unsere Gäste hungern und dursten lassen? Euch mach ich Beine!«
Er reichte mir seine Hand. »Bodenhausen, Ernst Bodenhausen, herzlich willkommen.«
Am Lagerfeuer der Deutschen erfuhren wir, dass es sich bei ihnen nicht etwa um Goldgräber handelte, wie ich es fälschlicherweise zunächst vermutet hatte, sondern lediglich um Siedler. Ernst Bodenhausen war Arzt, und er hatte die feste Absicht, sich dort niederzulassen, wo seine Hilfe am nötigsten gebraucht wurde, und das war seiner Meinung nach dort, wo Wohlstand herrschen würde. Anders ausgedrückt meinte er die Orte, an denen man Gold fand. Während er erzählte, beobachtete ich heimlich die Männer und Frauen, die uns umgaben. Ich zählte neun Männer, denen ich zutraute eine Waffe zu ergreifen und auch abzufeuern, doch wenn man Kenneth, Julius, Paul, Phillip und mich hinzuzählte, waren wir, so dachte ich, eine doch ziemlich schlagkräftige kleine Armee, mit der sich niemand einfach so mir nichts, dir nichts anlegen würde. Die Tatsache, die uns schließlich dennoch dazu bewegte, uns für die Schutztruppe, von der Lebœuf gesprochen hatte, zu entscheiden, war, dass wir wieder einmal konsterniert feststellten, dass keiner von uns eine wirkliche Ahnung vom Orientieren hatte. Wir konnten grob mit dem Kompass umgehen, doch das allein würde nicht genügen. Wir mussten verschneite Pässe überqueren, uns in einer unbekannten Landschaft und eventuell inmitten einer Population bewegen, die uns nicht sonderlich freundlich gesinnt sein würde und wo ein Irrtum in der Abschätzung zwischen Hinterlist oder Freundschaft den Tod bedeuten konnte.
Oh ja, ein Ziel hatten wir alle, doch wollten wir diesen Ambitionen auch die Chance geben sich zu verwirklichen, und nicht aus falschem Stolz oder aus Dummheit heraus diese Chance schon im Ansatz auf ein Minimum reduzieren. Ernst Bodenhausen und ich trafen Lebœuf wie zufällig am nächsten Tag.
Dieser schien zunächst überrascht. Bevor wir jedoch auch nur ein Wort sagen konnten, winkte er bereits ab. Arroganz schwang in seiner Stimme, als er selbstgefällig sagte: »Sie haben eine gute Wahl getroffen. Ich bin aber nicht billig, das sage ich Ihnen gleich.«
»Ich?« Jetzt war ich es, der überrascht war. »Sie sprachen gestern von einer ganzen Truppe.«
Der Franzose lachte und zeigte eine Reihe vom Tabak gelblich verfärbter Zähne.
»Keine Sorge. Es gibt niemanden, der dieses Land da oben besser kennt als ich, die Injuns nicht ausgenommen.«
Dann sah er mir direkt in die Augen und sagte genau den Satz, den ich am Tag vorher gedacht hatte.
»Sie haben genug Leute, die ’ne Waffe tragen können. Niemand wird so dumm sein und mir nichts, dir nichts eine so schlagkräftige Truppe angreifen, compris?«
Ich hatte verstanden, konnte seiner Logik dennoch nicht ganz folgen, denn Lebœuf war alles andere als ein Dummkopf. Er hatte bei unserem ersten Treffen von einer ganzen Schutztruppe gesprochen und dies auch so gemeint, da war ich mir ganz sicher. Warum hatte er seine Meinung so plötzlich geändert?
Ernst nahm mich einen Augenblick beiseite.
»Er hat Recht. Was wir benötigen, ist ein Führer und keine Armee. Wir haben dank euch genug Waffen, wir haben das Herz am richtigen Fleck und den Mut derer, die nichts zu verlieren haben. Was kann da schon schiefgehen? Also von mir aus ... geben wir dem Franzosen doch seine Chance!«
Ich nickte in Lebœufs Richtung und zeigte vage nach Nordwesten.
»Was verlangen Sie dafür, uns dorthin zu bringen?«
Auf der Chippewa
An einem herrlichen Morgen im Februar des Jahres 1860 schifften wir auf der Chippewa, einem Dampfboot der American Fur Company, ein. Im Hafen drängten sich Dutzende von Schaulustigen. Hüte und Taschentücher in den Händen schwingend sahen sie, wie eine dicke Rauchwolke nach der anderen den beiden vorderen Kaminen der Chippewa entwich, wo