STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Gülden
Издательство: Bookwire
Серия: Dine
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797483
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anziehen und Ringelpiez ohne Anfassen. Das mit der freien Liebe, im Sinne von Vögeln ohne Vermählung, gehörte nicht dazu. Wahrscheinlich war Lissi durch eine erfolgreiche Gehirnwäsche ihrer Mutter gelaufen, die sie vor einer verfrühten Schwangerschaft bewahren wollte.

      „Blödsinn“, sagte ich. „Als ob nur Männer Sex wollen. Frauen wollen auch Sex. Und vielleicht hat dein Vater ja was mit anderen Frauen? Der ist doch viel unterwegs.“

      Lissi schüttelte langsam den Kopf. „Niemals. Mein Papa ist nicht so einer. Der ist nicht so ein Schwein und betrügt seine Frau, nur weil sie nicht mit ihm schläft.“

      Ich war siebzehn Jahre alt und nicht übermäßig erfahren in Liebesdingen, aber sicher, dass Lissi total auf dem Holzweg war. Sie war noch nicht fertig.

      „Mein Papa ist meiner Mutter monatelang hinterhergerannt. Er hat jeden Abend unter ihrem Zimmer gestanden, aber gesungen hat er zum Glück nicht.“ Sie lächelte mich an, als sei das der Beweis für irgendwas.

      Meine Mutter war mit mir im siebten Monat schwanger, als sie meinen Vater heiratete. Ich war wohl nicht so ganz geplant gewesen. So ein Kind wie mich nannte man Tropi. Trotz Pille. Meine Mutter war eine der ersten Frauen, die die Pille überhaupt genommen haben, sie hatte sie von ihrer Freundin Gisela bekommen, die verheiratet war. Die Pille wurde zu der Zeit nur verheirateten Frauen verschrieben. Meine Mutter erklärte das Nicht-Wirken der Pille bei ihr als Gottes Strafe für ihre Unaufrichtigkeit.

      „Ich finde Sex klasse“, sagte ich großspurig.

      Lissi schüttelte ein bisschen den Kopf, schwieg sich aber aus.

      „Willst du nie mit einem Typen schlafen?“, fragte ich.

      „Nee“, sagte sie. „Ich glaub' nich.“

      „Aber heiraten?“

      Sie nickte.

      „Dann bekommst du keine Kinder. Und einen untreuen oder einen religiösen Spinner zum Mann. Oder einen, der die ganze Zeit wichst. Oder alles zusammen.“

      „Igitt“, sagte Lissi und verzog das Gesicht. „Also Kinder will ich schon.“ Sie überlegte. „Ach, das wird schon.“

      „Also bei mir ist es umgekehrt“, sagte ich. „Ich kann auf Kinder verzichten, aber nicht auf Sex.“

      „Woher weißt du das denn?“, fragte Lissi. „Du hast doch gar keine Erfahrung.“

      Ich schwieg. Etwas nicht sagen ist nicht das Gleiche wie Lügen.

      Lissi winkte ab. „Die lieben einen auch so.“

       Ich fürchtete, dass sie es ehrlich meinte. Ich war sicher, dass sie unrecht hatte und ich den Durchblick. Meistens auf jeden Fall, jetzt hatte ich mir vollkommen die Kappe abgeraucht und war betrunken. Es war mir gerade ziemlich egal, ob Lissi Nonne werden würde oder als erste verheiratete Frau des Ruhrgebiets mit intaktem Jungfernhäutchen Goldene Hochzeit feiern würde. Dass ihre Nase gerader war als meine, oder ihre Eltern viel Knete auf dem Konto hatten, war mir auch egal. Sie hatten 0,000 Periode Peilung vom wirklichen Leben. Noch weniger als meine Eltern, die wenigstens Freaks waren.

      Zurück zum Kifferkaffeeklatsch.

      Unter der Schminke schimmerte Lissis Haut grau-grün.

      „Mir ist schlecht. Ich muss kotzen.“

      Und schon reiherte sie über den ganzen Tisch und aufs Kleid. Der Strahl kam mit Druck und war wenig damenhaft. Ich fühlte mich überfordert, unterdrückte das hochsteigende Lachen und zog die Lippen in Richtung gekräuselter Nase, wie es die westfälischen Kartoffelbauern beim Begutachten ihrer Äcker machen. Sieht megadämlich aus.

      Dann entdeckte ich Lissis Mutter im Türrahmen.

      Wo ist die Unterhose?

      Im Aschenbecher neben Lissis saurer Hefezopfsektkotze lag der abgerauchte Joint, der im folgenden Tumult als Hauptbeweisstück diente. Kurz versuchten wir Lissis Mutter weiszumachen, dass es tatsächlich ein Silvesterböller wäre, aber wir konnten gerade nicht lügen. Lissis Mutter nahm den Joint mit spitzen Fingern und machte schmale Augen, die ungerechterweise zwischen mir und dem Joint hin- und herwanderten.

      „Was ist das?“, fragte sie mich.

      Ich schaute Lissi an. Das war ihre Mutter. Das musste sie erledigen.

      „Das ist ein Joint, Mama“, sagte sie.

      Das Gesicht von Lissis Mutter schnappte zusammen. Wortlos deckte sie den Tisch ab und wickelte die Kotze in die Tischdecke ein. Ebenso wortlos schauten Lissi und ich ihr dabei zu. Lissis Bruder starrte uns aus dem Hintergrund an und ich glaubte, ihn grinsen zu sehen.

      „Was habt ihr da überhaupt an?“, fragte sie.

      „Scheiße“, dachte ich.

      „Sind das meine Kleider?“, zischte sie, ohne die Zähne auseinanderzubringen. „Wie alt seid ihr eigentlich? Fünf? Zieht das aus.“ Sie schaute mich an.

      „Dich fahre ich gleich nach Hause.“

      „Scheiße“, dachte ich schon wieder.

      „Das hat ein Nachspiel“, sagte sie, als sie den umgeworfenen Paravent und die zerborstenen Glasfiguren sah.

      Ich fand meine Unterhose nicht wieder. Mir fehlte der Mut, jemanden um Hilfe bei der Suche zu bitten. Ich schlüpfte in meine Klamotten und folgte Lissis Mutter. Im Auto redeten wir kein Wort.

      Zuhause angekommen klingelte Lissis Mutter, ich stand schräg hinter ihr. Meine Mutter öffnete. Sie hatte geweint, schon bevor sie mich sah. Mit entleertem Gesicht und verquollenen Augen schaute sie Lissis Mutter an. Mein Vater war auch da, obwohl er um diese Zeit eigentlich immer im Volksmuseum war.

      Dann entdeckte Mama mich und fing an zu schreien.

      „Wie siehst du denn aus? Was ist mit dir los?“

      Wimperntusche und Kajal waren so verschmiert, dass ich aussah wie ein Bergarbeiter nach der Schicht, die Augen trieften blutunterlaufen, der Lippenstift färbte großzügig die Gesichtsfläche von Nase bis Kinn. Meine Haare klebten am Kopf, ohne Perücke sah es nach bösem Haarausfall aus.

      Dass ich keine Unterhose anhatte, sah zum Glück niemand. Ich wusste es und konnte null darüber lachen.

      „Ich bringe Ihnen Ihr Kind. Sie hat meine Kleider ruiniert, meine Tochter angestiftet, Drogen zu konsumieren und die gesamte Einrichtung unseres Hauses zerstört.“

      Meine Mutter blickte mich an, als hätte sie schon immer geahnt, dass ich eine dunkle Seite hätte.

      Im Hintergrund stand mein Vater, der mich bestaunte und die Arme hilflos hob.

      Meine Mutter fuhr zu ihm herum.

      „Das ist das Ergebnis von deinen Geschichten“, knurrte sie ihn an. „Wenn du dich mehr um deine Familie, als um gelenkige Gerippe kümmern würdest, wäre das nicht so weit gekommen.“

      Ich drückte mich an ihnen vorbei und ging in mein Zimmer. Erst war ich ziemlich nervös, weil ich dachte, sie würden gleich kommen und es würde ein Donnerwetter auf mich runterprasseln, wie ich es noch nicht erlebt hatte, aber es passierte gar nichts.

      Meine Mutter wollte an diesem Tag meinen Vater überraschen und von der Arbeit abholen. Wahrscheinlich fand sie es merkwürdig, dass er ohne Abmeldung nicht zum Mittagessen gekommen war. Im Heimatmuseum war er nicht. Man sagte ihr, er sei im Yogakurs, was meine Mutter verwunderte. Sie ging zur Turnhalle der Volkshochschule und fand meinen Vater mit der Yogalehrerin in Verrenkungen verbunden, die mehr nach Kamasutra aussahen, als nach Yoga.

      Diese Kamasutrasache fuchste sie mehr, als die Neuigkeiten über meine bewusstseinserweiternden Experimente. Das war wieder typisch für meine Eltern. Immer war irgendwas wichtiger als ich. Was nicht hieß, das die ganze Sache keine Konsequenzen hatte. Weder für mich, noch für meinen Vater.

      Soweit ich das überhaupt beurteilen