STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Gülden
Издательство: Bookwire
Серия: Dine
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797483
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er durch die Türen ging und wir alle stießen uns die Köpfe, wenn wir die Treppen hoch- oder runtergingen, was wir andauernd mussten, denn unser Haus bestand, grob beschrieben, aus drei Zimmern auf drei Etagen. Mein Zimmer war der ausgebaute Dachboden. Am Anfang heizten wir noch mit Kohle, weil Papa das sinnvoll fand und meinte, man könnte sich so von den Energiekonzernen unabhängig machen. Er freute sich jedes Mal den Arsch ab, wenn die Kohle kam, dann lag ein riesiger Berg direkt vor unserem Haus, den schippte er dann durch ein Minifenster in den Keller und Mama und ich schleppten die Kohle dann mit hundert Jahre alten, sauschweren Kohlebehältern aus dem Keller in die Wohnung. Wir fanden das Konzept nervig, vor allem Mama, die kotzte, weil es im Winter morgens saukalt war, wir uns im Bad einen Ast abfroren, oft nicht genug heißes Wasser hatten und schließlich lebten wir nicht im letzten Jahrhundert. Weil Papa dann doch Angst bekam, dass Mama sich scheiden lässt, hat er Heizungen einbauen lassen, was uns ruinierte. Das lag hauptsächlich daran, dass mein Vater handwerklich total unbegabt war. Papa hatte sechs ältere Brüder, die alle praktisch veranlagt waren, aber er war zu eigensinnig, um sie um Hilfe zu bitten. Sie hatten seiner Meinung nach nicht die richtige Einstellung, politisch und überhaupt. Die Handwerker flößten ihm schreckliche Angst ein, weil sie immer „Ojeojeoje, das sieht aber gar nicht gut aus“ ächzten und die Augen verdrehten, wenn sie ein neues Projekt bei uns starteten, so dass Papa immer das Teuerste bestellte.

      In meinem Zimmer haute ich mich auf mein Bett und hörte Musik.

      Ich war nicht besonders musikalisch in dem Sinne, dass ich eine verkackte Quinte von einer Quarte unterscheiden konnte und fand es mies, dass so was benotet wurde. Aber wahrscheinlich war es genau so ungerecht, dass ich in Kunst gute Noten hatte. (Bis auf das Mopsi-Bild).

      Das hatte nichts mit musikalisch oder unmusikalisch zu tun, welche Musik man mochte. Das war ja wohl Geschmackssache. Dadurch, dass ich nicht so ein Musikgenie war, gefielen mir nicht so viele Stücke wie anderen, klassische Musik empfand ich genau so schön wie das Kreischen einer Holzsäge, bei Jazzmusik fühlte ich mich, als sei mein Kleid zwei Nummern zu klein. Bestimmt tolle Musik, aber nicht in meinen Ohren. Als kosmischen Ausgleich gab es ein paar Songs, da schauerte es mich wohlig, als würde mir heißes Wasser beim Duschen über den Nacken rinnen. Manchmal rieselte der Schauer auch noch die Arme runter, bei Liedern wie „After The Goldrush“ von Neil Young. Neil Youngs Stücke mochte ich alle. Bei ihm war ich auch intolerant, was die Geschmacksfrage betraf. Wer Neil Young nicht total gut fand, war bekloppt. Und überhaupt gab es in unserer neuen Clique einen ziemlich festgelegten Kanon von Musikstücken, die man toll finden musste, so war das bei den Hippies. Ich döste vor mich hin und zum hundertsten Mal bedauerte ich, dass ich so spät geboren worden war und das in Kleinbeken. In der kalifornischen Wüste in einer Hippiekommune, oder so, zehn Jahre früher, das hätte ich besser gefunden. Dann wäre ich so alt wie Peter und hätte schon mal die Sache mit dem Altersunterschied nicht. Allerdings würden uns dann, mal angenommen, er wäre immer noch Geschichtsreferendar in Großbeken, neuntausend Kilometer trennen. Genauso aussichtslos war es, in Kleinbeken Hippie zu sein, so sehr ich mich auch bemühte. Die Grundbausteine Kiffen, Hippie-Musik, Indienkleidung und lange Haare fügten sich nicht zu einem gigantischen Liebes- und Friedensgefühl zusammen, wenn der einzige Ort, an dem man sich treffen konnte, ein Büdchen war, wo es Bier, Apfelkorn, Zigaretten und Süßigkeiten gab. Hier konnte man sich für nichts einsetzen. Ich protestierte ohne Publikum. Das Einzige, was mich als Widerstandskämpferin auszeichnete, was mein großer, runder „ATOMKRAFT? NEIN DANKE“ Aufkleber an meinem Fenster, wo ihn keiner sehen konnte, weil das Fenster zum Innenhof führte.

      Der einzige Ausweg war, von hier weg zu kommen. Im Moment saß ich fest. Auf lauwarmen Kohlen.

      Ich nahm mir vor, Gitarre zu lernen, das sollte angeblich nicht so schwer sein und für Neil Young reichte Gitarre als Begleitung.

      15-Minuten-Heimat

      Wir hatten uns zum Lernen bei Lissi zuhause verabredet. Ich zog Turnschuhe und meine rote Alpakajacke mit Lamamotiv aus Bolivien an, meine Mutter zankte mich an, ich solle festere Schuhe und was Wärmeres anziehen, da es Winter sei, was mir noch gar nicht aufgefallen war, wo einem doch Eiszapfen auf den Kopf fielen und ich hasste sie gleich für die erneute Einmischerei und zog erst recht meine Turnschuhe an. Ich war Hippie und zog keine Spießerklamotten an. Was hat ein Hippieleben mit wasserdichten Wanderstiefeln zu tun? Draußen schneite es, die Turnschuhe waren eine blöde Idee gewesen.Das war natürlich die Schuld von meiner Mutter, dass ich jetzt nasse und kalte Füße bekam.

      Lissi und ich kannten uns seit dem Kindergarten. Freundinnen wurden wir, als ihr Spaniel Jambosala unsere Mopsi schwängerte, da waren wir neun Jahre alt. Die Kleinen sahen sehr süß aus, einen nahm mein Freund Andi und nannte ihn Ente. Mein Vater ging mit Mopsi und den Welpen zu Lissis Eltern und verlangte Alimente. Lissis Eltern beömmelten sich, hahaha, Hände dreimal auf die Beine geschlagen, zahlten natürlich nix, luden uns aber zum Kaffee ein. Lissi und ich wurden „Beste-Freundinnen“ und verbrachten die Jahre in der Sicherheit, die ein „Bester-Freundinnen-Pakt“ so mit sich bringt. Ab und zu trübte der Wohlstand von Lissis Eltern meine Freude an diesem Bündnis.

      Ich schlitterte den Gehweg lang. Kleinbeken war, um es mal auf den Punkt zu bringen, ein zum Totlachen winziges Kaff. Um zu Lissi zu gehen, musste ich einmal durch den gesamten Ort, was eine Viertelstunde dauerte. Sieben Minuten bis zum Kirchplatz, eine Minute über den Kirchplatz, wo die drei Kneipen um die Kirche herum standen und etwas abseits das Büdchen war, vor dem Andi und Keili immer noch oder schon wieder abhingen. Sie wippten von einem Bein auf das andere, stießen weiße Atemwolken aus und rieben sich die Hände. Als sie mich sahen, winkten sie, ich winkte zurück und sah zu, dass ich weiter kam.

      Und dann waren es noch einmal sieben Minuten vom Kirchplatz zu Lissi, wo die Straßen breiter wurden und Platz für große Bäume zwischen den Häusern war. Lissi wohnte in dem größten Einfamilienhaus Kleinbekens, mit einem Schwimmbecken im Garten. Ich hätte es besser gefunden, wenn sie in unserer Zechensiedlung gewohnt hätte, nicht nur wegen der Entfernung. Lissis Vater hatte das Monopol für Kaugummiautomaten im gesamten Ruhrgebiet und man ahnte ja nicht, wie viel Geld sich damit machen ließ. Immer, wenn ich die Gören mit den schmierigen Pfoten vor den Automaten sah und ihr Geplärre hörte, musste ich an Lissis Vater denken, wie er auf dem weißen Ledersofa saß mit seinen manikürten Fingernägeln und ich staunte, was die Kaugummis einbrachten. Er hatte auch noch einen Getränkeladen. Bei Lissi zuhause sah es aus wie in einer Hochglanzreportage über Landadel, alles geschmackvoll und picobello. Sie hatten eine Putzfrau, die jeden Tag kam. Lissis Eltern machten mir Angst. Mein Vater mochte sie nicht, er sagte, Lissis Vater sei ein Unterdrücker, aber dann murmelte meine Mutter immer, er solle mal lieber vor seiner eigenen Hütte kehren, dann verzog sich mein Vater in seine Arbeitsecke und las regionale Lyrik. Er war der Stadtarchivar von Großbeken. Meine Mutter drehte sich zum Herd um und kochte.

      Pipi

      Lissi öffnete die Haustür mit den Ellbogen, denn ihre Hände klebten in einem gigantischen Teigkloß.

      „Hi Dine“, grinste sie. „Ich mache einen Hefezopf.“

      Das konnte man gleich astrein als Motiv in die Fotoreportage mit aufnehmen, die über den Landadel aus Kleinbeken mit Lissi als Heldin. Oft kam es mir so vor, als meinte Lissi die Dinge, die sie tat, nicht richtig ernst. Alles war Pose, eine Seite im Bilderbuch, eine Sequenz in einer Seifenoper. Lissi auf dem Schulweg. Lissi hört interessiert zu. Backt. Als gäbe es keinen Ernst im Leben, alles ist ein großer Spaß, ohne Ende Spaß. Auf diesen Bildern war nur Lissi. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Hefezopf zu backen, schon gar nicht in dem Moment, wenn jemand kommt, der mir bei Mathe helfen soll. Aber das war Lissi und mir wäre es nie in den Sinn gekommen, ihre Handlungen in Frage zu stellen, denn sie war nicht nur meine beste Freundin, sie war eine Wegbereiterin. Sie gab die Richtung vor. Meistens folgte ich, außer wenn es um dieses Hausfrauending ging und um Sex. Jetzt ging ich ihr in die Küche hinterher und schaute zu, wie sie den Teig knetete und einen Zopf daraus flocht. Ich konnte weder Backen noch Kochen und hatte keine Lust, das zu lernen. Lissis Hefezopf aß ich allerdings sehr gerne.

      „Wo sind deine Eltern?“, fragte ich.

      „Mein