STÖRFÄLLE. Gudrun Gülden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Gülden
Издательство: Bookwire
Серия: Dine
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797483
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Ich hatte noch nie einen Freund. So einen, wie ich ihn wollte, gab es hier nur einmal. Das Problem war, dass er mein Geschichtsreferendar war, der unter anderen Hinderungsgründen auch noch eine Freundin hatte. Auch wenn Hippies in der Regel nicht einsahen, dass eine Beziehung unbedingt monogam sein musste, gab es gesetzliche und moralische Grenzen, die Peter ernst nahm. Ich bewunderte ihn für seine Willensstärke, fand mich aber nicht damit ab. Was sollte so ein Begriff wie freie Liebe, wenn er Kleingedrucktes hatte.

      In der Praxis waren der „freien Liebe“ in Kleinbeken und selbst in Großbeken arge Grenzen gesetzt. Da waren doch alle gleich. Der einzige Mensch, den ich kannte, der sich in Sachen Sex nicht ganz konventionell verhielt, war Joseph, der aber in keiner Weise ein Vorbild für mich war. Er war der Knecht von Onkel Manni, dem ältesten Bruder von Papa, der Milchbauer war. Ab und zu konnte Joseph sich in Bezug auf seine Zuneigung zu Lise, einer respektablen Milchkuh, nicht zurückhalten. Natürlich regten sich alle immer total auf und steckten Joseph für eine Woche in den Knast, wenn er es mal wieder zu bunt getrieben hatte. Irgendwie fand ich das merkwürdig. Nicht, dass ich Josephs höchstwahrscheinlich einseitige Zuneigung zu Lise befürwortete. Nein. Ich meine, wenn sie doch wussten, dass er an die Kühe geht, dann hätten sie ihn nicht als Knecht arbeiten lassen dürfen. Aber nein, alle drei Monate wurde klar Tisch gemacht und Joseph musste zur Strafe mal wieder in den Knast. Ich fand das irgendwie nicht zu Ende gedacht. Die Männer in unserem Dorfe schienen von Liebe oder Sex wenig zu wissen. Aber das brachte mich jetzt auch nicht weiter.

      Zweitens: Das Kiffen machte mich träge. Es brachte mich nicht an die Front des Geschehens, allerdings konnte ich bekifft herrlich von Sachen träumen, die ich am liebsten tun würde.

      Ich hatte Angst, dass der Einfluss dieses Kaffs und das Fehlen sämtlicher Sachen, die ich cool fand, mir einen Riesenschaden zugefügt hatten. Man kann nicht theoretisch was erleben und das, was ich erlebte, hatte wenig mit Liebe oder Hippie zu tun und war schwachsinnig.

      Wenn ich es genau betrachtete, gab es nur einen Menschen, den ich von seinem theoretischen Ansatz her vernünftig fand. Meinen Vater. Im Ernst. Ich war nicht so was, was man eine Vatertochter nennt. Ich hielt mich in vielen Dingen an ihn, weil meine Mutter noch merkwürdiger war. Aber er war tatsächlich ein Vorbild in seinem politischen Denken für mich. Mit der Umsetzung haperte es bei ihm wie bei mir, aber theoretisch war er auf der Höhe. Mein Plan war, einen Schritt weiter zu gehen als er. Das Denken meines Vaters in die Tat umzusetzen. Ich wollte mich an Bäume anketten, Hühner befreien, in Nicaragua Entwicklungshilfe leisten oder gegen Atomkraftwerke demonstrieren. Ich hatte einen weiten Weg vor mir, eigentlich war ich noch vor dem Start. Und heute würde auch nichts aus 'Dine-Rettet-Die-Welt' werden, denn ich befand mich komplett stoned auf einem privaten Kinder-Verkleidungs-Kaffeeklatsch.

      Sex

      Ich drehte uns noch einen Joint, zündete ihn an und ging damit zu Lissi, die den Kaffeetisch deckte.

      Lissi schaute mich eine Ewigkeit an.

      „Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte sie.

      „Lachanfall“, sagte ich und sie nickte.

      „Das Kostüm steht dir“, sagte sie.

      Ich war erleichtert, dass sie von meinem Pinkelunfall nichts mitbekommen hatte. Ich musste aber dermaßen intensiv daran denken, dass ich dachte, sie würde mich gleich danach fragen, warum ich keine Unterhose anhatte.

      Wir rauchten den Joint, dann holte Lissi eine Flasche Sekt. Asti Spumante. Das ist jetzt kein Gesöff wie Champagner, von der Herstellung, vom Preis und dem Renomee her, aber schön süß und fruchtig. Bekifft kann man sich den Zucker nur so ins Maul schaufeln. Jede Zelle des Körpers lechzt nach Süßem und dann ist das Büdchen in Kleinbeken nämlich doch gar nicht so ein schlechter Ort für unsere Grundbedürfnisse. Die Pulle Asti ging nicht gut auf, Lissi schüttelte sie und irgendwann flog der Korken nach oben, knallte vor die Decke, wo er eine hübsche Delle hinterließ. Viel von dem Sekt floss auf den flauschigen Veloursteppich im Wohnzimmer. Wir schauten uns den Sekt begeistert an, denn er sprudelte noch ein bisschen auf dem Teppich und zog überhaupt nicht ein.

      Lissi holte geschliffene Gläser aus einer Vitrine, schenkte den Sekt ein und gab mir ein Glas.

      Sie spitzte den Mund.

      „Jutta, wie wär’s mit einem Schlückchen. Das regt doch den Kreislauf an.“

      „Barbara“, sagte ich, „unbedingt. Das ist die reinste Medizin.“

      Lissi schaute mich mit verschleierten Augen an und kippte sich Sekt rein, wofür sie den Kopf in den Nacken legte. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und flog in einen orientalischen Paravent, der ohne Sinn in der Gegend stand. Auf dem Weg zum Boden zog sie noch eine filigrane Stehlampe mit. Sie landeten zu dritt im Regal, in dem wunderschöne Glasobjekte standen, in denen irgendwas durch Nanopartikel beeinflusst war. Dadurch sollte die Reflexion filigraner und strahlender erscheinen, was sich nach Lissis Einschlag jedoch erledigt hatte.

      „Huch“, meinte Lissi. Ich zog sie hoch, wir bestaunten das Desaster und setzten uns an den Tisch.

      „Ich genehmige mir immer ein Schlückchen, wenn Helmut romantisch wird. Das lockert die Atomsphäre.“ Lissi merkte, dass sie mit den Konsonanten durcheinander gekommen war, winkte mit den Armen ab und lachte sich tot. Sie verschluckte sich amtlich und hustete so stark, dass ihr Sekt aus der Nase lief.

      „Ich trinke, wenn Walter mit Frau Schmidt romantisch wird.“ Ich wollte es lustiger klingen lassen, aber auf einmal verpuffte das Lachen.

      Lissi war nichts aufgefallen, sie gackerte, legte eine Hand vor ihren Mund, die andere in den Schritt.

      „Oje“, sagte sie. „Ich mach mir gleich in die Hose.“

      „Im Ernst“, sagte sie dann. „Meine Eltern lieben sich auch ohne Sex. So ist es doch viel schöner, die lieben sich, weil sie sich lieben.“ Sie zog den Hefezopf auseinander, schmierte eine dicke Schicht weiche Butter drauf und stopfte sich ein Riesenstück in den Mund.

      Wie immer, wenn Lissi mit diesem Kein-Sex-Vor-Und-In-Der-Ehe-Thema kam, fiel mir erst Mal nichts dazu ein.

      Lissi bemerkte meine Zurückhaltung nicht. Sexuelle Enthaltsamkeit war eines ihrer Lieblingsthemen. Wenn sie erst Mal ihre schlanken Beine auf dieses Steckenpferd geschwungen hatte, blieb kein Auge trocken. Eigentlich ging es ihr nicht um Enthaltsamkeit, denn das setzte ja auch einen Vollzug auf der anderen Seite voraus. Lissi nullte das Thema.

      Sie nickte mir zu und schob den gigantischen Hefezopfklumpen in die Backentasche. Sie sah wie ein Monsterhamster aus und ich bekam schon wieder Angst, abzudrehen, weil sie nicht wie Lissi aussah.

      „Genau“, sagte sie, aber ich hatte, soweit ich mich erinnern konnte, nichts gesagt. Ihre Augen hingen schwer auf Halbmast.

      „Echt. Ich will nie mit einem Mann schlafen. Nie. Sex wird doch total überbewertet. Mir tun die Mädchen leid, die schon so früh mit Männern schlafen. Ich sach dir, die Männer lieben einen auch so, ohne dass man mit denen schläft.“ Sie winkte abfällig mit der Hand und tat ganz routiniert.

      „Schau doch mal, wir haben noch nie mit keinem Typen geschlafen und die finden uns doch alle toll.“

      Dann arbeitete sie die diversen Klumpen in den Hamsterbacken ab und schluckte schwer. Dann redeten wir eine Weile nicht, sondern aßen den ganzen Hefezopf auf und spülten mit Sekt nach.

      Jedes Mal, wenn Lissi mit diesem Thema begann, verschlug es mir die Sprache. Ich hatte Lissi nichts von meinem ersten und bislang einzigen Mal erzählt, aus guten Gründen und ich ließ es auch diesmal bleiben. Auch von meiner Liebe zu Peter hatte ich mit niemanden geredet, außer überflüssigerweise mit ihm. Sie lallte noch etwas, das ich nicht verstand, aber ich kannte ihre Meinung und teilte sie nicht. Wenn mir eins klar war, dann das, dass Sex total toll sein musste, denn ich fand das Kinderkriegen (bis zu zwanzig Stunden voll die Schmerzen) und vor allem sie großzuziehen (fünfundzwanzig Jahre, falls sie so schlau sind und studieren) eine sauschwere Aufgabe war. Wenn so was durch Sex (drei bis fünf Minuten) und im Glücksfall durch einen Orgasmus (max. zwanzig