"Okay. Ich hab dich lieb, vergiss das nicht, Mäuschen."
Ich schmunzle. "Ich dich auch, Dad. Immer."
Nachdem wir aufgelegt haben, lasse ich mich seufzend auf meinen Schreibtischstuhl fallen. Ohne viel nachzudenken, klappe ich meinen Laptop auf und schreibe. Da ich für morgen sowieso noch einen Aufsatz über Leid schreiben muss, fange ich gleich damit an. Genug Stoff dafür habe ich dieses Wochenende ja sammeln können.
Es sind so viele Dinge passiert und so viele verschiedene Gedanken in meinem Kopf, dass mir erst nach sechs Seiten auffällt, wie viel ich eigentlich schon geschrieben habe. Aber ich denke, dass es gut so ist. Ich fühle mich viel besser, nachdem ich mir alles von der Seele geschrieben habe. Es ist, als würde ich es einem Freund oder einer Freundin erzählen. Einem anonymen Freund, den es nicht gibt und der immer neutral zu meiner Meinung und Geschichten steht, er hört einfach nur zu und versteht mich.
Um elf Uhr vibriert mein Handy. Aiden hat mir eine Nachricht geschrieben. Ich muss schmunzeln.
Ich hoffe, der Besuch bei Tammy heute steht noch. Ach, natürlich steht der noch, du hast sowieso nichts zu tun. Wann würde es dir passen?
Ich verdrehe die Augen und antworte. In einer halben Stunde, Idiot.
Sofort springe ich unter die Dusche und ziehe mich an. Eine normale Jeans mit kariertem Shirt sollte ausreichen. Immerhin ist es nur ein Krankenhaus und keine Kirche.
Eine dreiviertel Stunde später stehen Aiden und ich auch schon an der Rezeption des Krankenhauses, um Tammy zu besuchen.
Ich sehe mich in der Eingangshalle um. Auf irgendeine komische Art und Weise kommt mir hier alles gruselig vor. Es riecht total steril und in fast jeder Ecke sitzt jemand, dem man sofort ansieht, dass er krank ist. In einer Ecke sitzt ein Mann im Rollstuhl, der nur noch wenig Haare auf dem Kopf hat, an einen Tropf angeschlossen ist, den Kopf komisch hängen lässt und mich schon seit zwei Minuten anstarrt.
"Tamara Bryan", sagt Aiden zu der Krankenschwester hinter der Rezeption.
Die Schwester nickt, gibt etwas in ihren Dinosauriercomputer ein und sagt dann: "Tamara Bryan. Zweiter Stock, Zimmer B27."
Aiden runzelt die Stirn. "Zweiter Stock? Intensivstation?"
Verwirrt sehe ich zwischen ihm und der Krankenschwester hin und her.
"Ja, letzte Nacht wurde sie dorthin verlegt."
Ich höre, wie Aiden die Luft anhält. "Wieso?"
Die Schwester zuckt mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Am besten fragen sie Doktor McQueen, er ist ihr behandelnder Arzt."
Aiden nickt langsam und sieht zu mir herab. "Okay, komm mit." Er klingt auf einmal so traurig, dass ich kurz das Gefühl habe, er würde jede Sekunde in Tränen ausbrechen. Aber das tut er nicht.
Ich folge ihm zum Aufzug und er drückt die 2. "... Ich hoffe, Tammy geht es gut", sage ich leise und starre auf meine Boots.
Aiden atmet tief ein und aus, lehnt sich dann an die Aufzugwand. "Das hoffe ich auch. Sie war vorher nur einmal auf der Intensivstation. Aber ich kenne Doktor McQueen gut, deshalb werden wir gleich mehr wissen."
Ich nicke und sehe ihn mitleidig an. Es muss für ihn eine riesige Last sein, zu wissen, dass das kleine Mädchen, das er so mag und behandelt, als wäre sie seine Tochter, Tag um Tag dem Tod näher kommt.
Schweigend gehen wir durch den Gang und laufen an vielen Betten vorbei, die mit Vorhängen verdeckt werden. Hier ist die Atmosphäre noch viel schlimmer, als unten in der Eingangshalle. Manche Menschen die hier liegen sehen schon wie der Tod höchstpersönlich aus. Vom anderen Ende des Gangs hört man eine Frau schreien "Bringt mich um! Bringt mich doch endlich um, verdammt!" Ich möchte am liebsten nicht wissen, was ihr fehlt. Es muss schrecklich sein hier eingesperrt zu sein und um das Leben zu kämpfen, wenn es eigentlich sowieso schon verloren ist.
"Hazza!", höre ich Tammys Stimme durch die quälenden Laute der verletzten Menschen rufen.
Sofort erhellt sich meine Miene.
Auch die Laune von Aiden scheint innerhalb von einer Sekunde besser geworden zu sein, denn er grinst jetzt breit.
Tammy sieht hinter einem Vorhang zu uns und grinst breit. Ich atme erleichtert aus, als ich sehe, dass es ihr anscheinend gut geht. Ich hatte ernsthaft befürchtet, wir würden sie mit ganz vielen Kabeln an ihrem Körper im Koma liegend vorfinden.
"Hazza, Hazza, ich bin hier!", ruft sie nochmal und winkt zu uns.
Aidens Grinsen wird breiter und jetzt rennt er schon fast auf sie zu. "Ich sehe dich, Tammy!" Als er bei ihr ankommt, zieht er den Vorhang beiseite und Tammy stellt sich auf ihr Bett, damit sie sich vor Freude quietschend um seinen Hals werfen kann.
Sie liegt zwar nicht im Koma, aber sie hat trotzdem so einige Kabel an ihrem Körper kleben. Sie ist mit einer Maschine verbunden, die ihren Herzschlag anzeigt. Aber Hauptsache sie lebt und kann noch lachen.
"Hey, hey, beruhig dich, Süße", lacht Aiden und setzt sie wieder auf das Bett. "Du willst doch nicht schon wieder eine Volllandung auf den Boden machen.
Ich stelle mich an das Fußende des Bettes und beobachte die beiden, die miteinander umgehen, als wären sie eine kleine verlassene Familie.
Tammy kichert nur und sieht jetzt zu mir. "Raven, du bist gekommen", freut sie sich und krabbelt zu mir. Sie trägt heute ein hellblaues Kopftuch. Die gleiche Farbe, wie ihre Augen.
"Natürlich, ich sagte doch, dass wir uns bald wiedersehen", lache ich und jetzt fällt Tammy auch mir um den Hals.
"Danke, danke, danke! Ich hab schon sooo lange gewartet. Schon hundert Stunden!" Sie setzt sich wieder ins Bett und hält ihre zehn Finger hoch.
Jetzt, wo ich sie näher betrachte, fällt mir erst die rote Narbe an ihrer rechten Schläfe auf. Die hatte sie das letzte Mal noch nicht, als sie in der Kirche war.
"Hundert Stunden schon?", fragt Aiden sie und fasst sich an die Wangen, damit er auch richtig entsetzt aussieht. "Aber ich war doch gestern erst hier. Wie kann das denn sein?"
Tammy verschränkt beleidigt die Arme und schnaubt. "Hundert Stunden, Hazza."
Bei dem Spitznamen muss ich wieder schmunzeln. Ich muss mir auf jeden Fall angewöhnen, ihn auch so zu nennen. Es klingt wirklich süß, wenn Tammy das sagt.
"Okay, hundert Stunden." Aiden lacht. "Was hältst du denn davon, wenn Raven und ich dich zu einem Eis einladen?"
Ich runzle die Stirn. Davon wusste ich aber nichts. Mein Herz springt aber trotzdem bei der Vorstellung mit Aiden und Tammy auf einer Bank zu sitzen und Eis zu essen. Wie eine kleine Familie.
"Ja, ja, ja", freut sich Tammy und klatscht vor Aufregung in die Hände. "Das ist wenigstens leckeres Essen. Das Essen hier ist total widerlich."
Aiden lacht laut und hält ihr den Mund zu, weil gerade eine Krankenschwester vorbei läuft und uns komisch beäugt. "Sag so etwas nicht so laut, sonst bemalen dich die Schwestern nächste Nacht, während du schläfst."
Die Schwester, die uns komisch angesehen hat, schnaubt laut und macht einen Abgang.
Ich muss leise lachen und sehe ihr hinterher.
"O je", macht Tammy und hält sich jetzt selbst den Mund zu. "Nicht schon wieder."
"Nicht schon wieder?", frage ich verwirrt. Die Schwestern werden sie ja wohl nicht in der Nacht angemalt haben?
Tammy nickt heftig. "Ja! Als ich einer Schwester mal gesagt habe, dass ich nicht in dieses doofe - "
"Tammy, Ausdrucksweise", wirft Aiden ein.
Sie rollt die Augen und fährt fort. "Dass ich nicht in dieses wunderschöne Plastikding machen möchte, weil das eklig ist, hat sie mich in der Nacht angemalt. Ich hatte am nächsten Morgen Schnurrhaare auf meinen Wangen und einen Punkt auf der Nase." Sie zeigt auf ihre Nasenspitze.
Mir