Vielleicht sollte ich auch mal wieder wegfahren. Ist schon ein Weilchen her, zuletzt Ostern 2012. Oje, wenn ich daran noch denke. Bombenanschlag beim Osterfeuer und ich saufe bald in der Ostsee ab. Und dann die schöne Monika, die schwarze Witwe…
Bruno reißt sich von den trüben Gedanken los, obwohl die Erinnerungen an die Frau seines Cousins so trübe gar nicht sind, eher verwegen. War schon eine heiße Kiste damals. Hat ihn fast an der Beziehung zu seiner Karla zweifeln lassen.
Naja, alles Schnee von gestern. Überhaupt Schnee, Skifahren war ich auch nicht im letzten Winter. Ist ja kein Wunder, dass ich urlaubsreif bin. Anna mal wiedersehen, das wäre richtiger Urlaub für mich. Aber was mache ich dann mit Karla? Die will doch dann bestimmt mit…
Bruno kommt zu keinem Schluss. Muss auch nicht jetzt sein. Er zwingt sich, über die Gestaltung seines Geburtstages nachzudenken, quasi Eventmanagement. Karla, sein Freund Harry und nicht zuletzt seine Schwester Anette würden es nicht akzeptieren, wenn er einfach über den Sechsundsechzigsten hinweggehen würde. Seine Mutter müsste er auch mal wieder besuchen.
Wäre das nicht eine Idee, alle dorthin einzuladen? Scheiß Idee, die ist inzwischen 91 Jahre alt und ihre lichten Momente sind eher die Ausnahme.
Seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor fast drei Jahren in ihrer Seniorenresidenz Sonnenschein ging es stetig mit ihr bergab. Zuerst glaubten Bruno und Anette noch, dass man ihr nur Zeit geben müsse. Aber in dem Alter arbeitet die Zeit nur gegen einen, und spätestens an ihrem 90. Geburtstag, als ihre beiden Kinder sie besuchten und sie gar nicht wusste, dass sie Geburtstag hatte, und es auch nicht glauben wollte, da ahnten sie, dass das Schicksal nun auch ihre Mutter mit der Altersdemenz eingeholt hatte. Wenn Bruno ganz ehrlich zu sich selber ist, und das ist er zuweilen, dann ist er froh, wenn er da nicht hin muss. Zu sehr erschüttert ihn der Anblick dieser vielen alten Menschen, wie sie immer unselbstständiger werden, fast nichts mehr allein können. Er hat vor kurzem ein Buch gelesen, in dem der Autor das Leben seines an Demenz erkrankten Vaters beschreibt und das Zusammenleben mit ihm. Bruno erinnert sich sehr gut an die kritische Auseinandersetzung mit der allgemein üblichen Redensart, dass die Menschen im Alter wieder wie Kinder werden würden. Bruno hat den Autor verstanden, der feststellte, dass das gerade nicht der Fall sei, weil Kind sein gleichzeitig bedeutet, Weiterentwicklung, Dazulernen, Fähigkeiten und Wissen anreichern. Davon kann wohl bei seiner Mutter kaum die Rede sein. Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, verlassen mehr und mehr diese Welt und man muss ihnen in ihre Welt folgen, wenn man noch so lange es geht eine Gemeinsamkeit mit ihnen erleben will. Hinzu kommt bei Bruno das Problem, dass er das Schicksal dieser alten Menschen immer auf sich selbst projiziert. Er kann gar nicht anders, sieht sich dann in der gleichen jämmerlichen Situation. Jedenfalls belastet ihn ein Besuch bei seiner Mutter immer sehr und er ist schon Tage vorher verspannt und Tage danach noch niedergeschlagen.
Außerdem ist morgen m e i n Ehrentag, den will ich mir nicht versauen. Mama weiß doch sowieso nicht, dass morgen ihr Sohn 66 Jahre alt wird. Eines Tages wird sie mich nicht mal mehr erkennen, das haben die Ärzte mir schon prophezeit. Scheiß Alter und ich werde schon 66, kaum zu glauben. Wer weiß, wie lange es noch geht? Allerdings, wenn ich die Gene meiner Mutter …, aber Demenz ist auch nicht gerade mein erklärter Wunsch. Obwohl die Betroffenen …, die merken ja gar nichts davon oder doch? Kann man sich bewusst sein, dass man seine eigenen Kinder nicht mehr erkennt? Hört sich irgendwie unlogisch an, aber was ist am Menschsein schon logisch? Außerdem habe ich ja gar keine Kinder. Schönes Thema. Wie komme ich jetzt davon wieder weg?
Bevor Bruno die Wohnung verlässt, schaut er noch einmal in den Spiegel, müsste sich eigentlich noch rasieren, hat aber keine Lust.
Kann ich ja nachher noch machen, bevor ich mich mit Karla treffe. Dann rieche ich auch gleich etwas verführerisch. Siehst du, schon ganz andere Gedanken …
Ein Blick auf die Wetterstation zeigt ihm Sommer, Sonne, schon fast 30 Grad und offenbar recht windig. Er trägt leichte Jeans und ein weinrotes Polohemd, zieht aber noch eine dünne Weste darüber. Irgendwo muss man ja seinen Kram lassen, Geld, Papiere, Schlüssel, Handy. Es gibt nicht viel, was Bruno wirklich hasst, aber Herrenhandtaschen gehören dazu. Bruno geht die zwei Treppen gemächlich hinunter, bloß nicht hetzen bei der Hitze. Frau Krause hat deshalb genügend Zeit, sich in Position zu bringen.
"Gut, dass ich Sie treffe. War ganz schön laut gestern Nacht. Hatten Sie Besuch? Also wenn das so weitergeht mit Ihnen, werde ich mich bei der Hausverwaltung beschweren."
"Also erstens, Guten Morgen, Frau Krause, zweitens, es gibt keine Hausverwaltung, nur eine Eigentümerversammlung. Außer ihrer Wohnung sind alle anderen von den Besitzern bewohnt, auch meine. Ich bin sozusagen der Eigentümer dieser Wohnung, falls Sie das verstehen. Dann können Sie sich direkt bei mir beschweren, aber bitte nur schriftlich. Darüber hinaus war bei mir gar nichts los, da müssen Sie wohl etwas verwechseln, und überhaupt, bei der Lautstärke ihres Fernsehers können Sie doch sowieso nichts anderes hören. Schönen Tag noch."
Frau Krause hat brabbelnd die Tür geschlossen, hat wohl ihr Tageskontingent an Sozialverhalten verbraucht. Wenn Bruno guter Dinge ist, kann er über diese Meckerziege nur lachen, wenn er aber schlecht gelaunt ist, kann er schon mal ziemlich grob werden, heute so Mittelwert.
Diese blöde Ziege, jedes Mal hat die irgendwas zu sülzen. Die lauert bestimmt schon hinter der Tür, um mich abzufangen. Also wenn mal eine neue Partei zur Wahl antritt, die die Hexenverbrennung wieder einführen will, dann weiß ich, wo ich mein Kreuz mache.
Bruno geht schräg über die Straße zum Supermarkt Ünal. Naja, Supermarkt, sagt man halt so. Eigentlich ist es ein ziemlich kleiner, aber sehr gut sortierter und besonders exklusiver Markt, zumindest was Brunos Geschmack betrifft. Er geht jedenfalls sehr gerne zu Ünal einkaufen. Früher war das nur so eine Art Kiosk, aber seit Ünal den Laden von seinen Eltern übernommen hat, hat er ihn mehr und mehr erweitert. Jetzt setzt sich seine Kundschaft nicht wie am Anfang nur aus türkischen Landsleuten zusammen. Jetzt kaufen hier alle, von der Arztgattin bis zum urdeutschen Rentner, sieht man ja an Bruno. Er schätzt Ünal auch deshalb, weil der sich mit seinen Kunden sehr intensiv beschäftigt und immer versucht, deren Wünsche zu erfüllen. Deshalb wird bei ihm auch kaum etwas weggeworfen, wie bei den Supermarktketten, deren Müllcontainer jeden Abend schier überlaufen. Für Bruno ist klar, das hat er bei seinen Einsätzen als Unternehmensberater in der Industrie unzählige Male erlebt, falsch disponiert ist weggeworfenes Geld, im Falle von Lebensmitteln besonders tragisch. Aber irgendwie müssen die Händler ja wohl zu viel von der falschen Ware eingekauft haben. Das ist eben der Unterschied zu Ünal. Der kauft die Ware ein, die seine Kunden von ihm haben wollen. Kleiner Nachteil, es kann schon mal vorkommen, dass gewisse Dinge nicht oder nicht sofort zu haben sind. Und ein Schälchen frische Erdbeeren im Januar für zwölf Euro braucht eigentlich kein Mensch. Bruno hat nicht nur einmal erlebt, dass allein wegen dem irrwitzigen Preis, den sich keiner leisten kann oder will, die teuren roten Beeren letztlich im Müll landen. Dafür sind sie dann auch noch um die halbe Welt geflogen worden. Andererseits ist er aber ganz sicher, dass dieser Fall in der Kalkulation schon berücksichtigt wurde, das bezahlt jeder Kunde bei seinen anderen Einkäufen mit. Bruno packt nur die Dinge in den Einkaufswagen, die er gerne mag. Er weiß ja nicht, wer eventuell morgen zu Besuch kommt, hat ja keinen eingeladen. Aber zum Geburtstag