Im Gehen sagte einer seiner Kumpane: „Seht ihr das fette Vieh auf den Weiden? Die Kühe und einige von diesen strammen Weibern brächten uns komfortabel über den Winter!“
„Halts Maul“, herrschte ihn der Anführer an. „Wir sind offizielle Gesandte, keine Wegelagerer!“
Der Mann lachte. „Wenn Ihr es sagt…“
Dietrich sah ihnen mit sorgenvollem Blick nach.
Ein Hilferuf
Im fernen Alicando schien es Mauro, als hörte er einen verzweifelten Hilferuf. Inmitten der Betriebsamkeit, die ihn umgab, lauschte er hinaus in die Ferne. Doch die Stimme war verstummt. Er glaubte an eine Sinnestäuschung und wischte den Eindruck beiseite. Dennoch erfasste ihn eine seltsame Unruhe. Mit einem Mal hatte er Mühe, sich auf die Ausführungen der Fürsten zu konzentrieren, die ihm ihre Vorstellungen über den künftigen Grenzschutz darlegten. Der Punkt war kritisch, denn seine Interessen wichen von den ihren ab. Als sie nach langem Tauziehen die Einigung vertagten, war der flüchtige Eindruck längst vergessen.
Spät abends, als er todmüde ins Bett sank, hockte der Schatten einer Bedrohung wie ein hungriges Tier auf seiner Bettkante und raubte ihm den Schlaf. Er dachte zu allererst an Yvo, der sich mittlerweile längst auf Rigländischem Boden befand. War er in Gefahr? Mauro nahm sofort mit ihm Kontakt auf.
Doch Yvo war wohlauf. Er berichtete von ihrer Reise: Die Stimmung in der Reisegruppe war gut. Größere Schwierigkeiten hatte es keine gegeben. Iorghe hatte ihm unterwegs viel beigebracht. Nach anfänglichen Schwierigkeiten waren sie unzertrennlich. Sascha verstand sich ausgezeichnet mit Hartmuts Sohn Hartuin. Bald würden sie das Winterlager der Rigländer erreichen.
Mauro war zufrieden, den Bruder wohlauf zu wissen. Doch die Unruhe legte sich nicht. >Sigrun< flüsterte eine leise Stimme.
Mauro wischte den Gedanken beiseite: >Unsinn. Sigrun ist bei ihrem Oheim Dietrich in Sicherheit. Wenn sie jemand zu schützen vermag, dann dieser alte Kämpe.<
>Dietrich ist kein Zauberer…< mahnte die Stimme. Widerstrebend holte Mauro den Mondstein hervor. Sein müder Geist sträubte sich, eine Bedrohung für die Geliebte in Erwägung zu ziehen. Doch er wollte sich vergewissern…
Sigrun antwortete nicht. Kein Wunder, beruhigte Mauro sich. Es war schließlich späte Nacht. Sie schlief sicher schon tief und fest.
Am nächsten Morgen, gleich beim Aufstehen, war das ungute Gefühl wieder da. Als Mauro auch im Laufe des Tages keine Verbindung zu Sigrun aufbauen konnte, wurde die Ahnung langsam zur Gewissheit: etwas Schreckliches war geschehen.
Da er über den Mondstein nicht mit ihr kommunizieren konnte, musste er einen anderen Weg finden. Am liebsten wäre er auf der Stelle an ihre Seite geeilt. Doch die Kunst, den Körper mit auf Reisen zu nehmen, wie Torren oder Schlobart es zu tun pflegten, beherrschte Mauro noch nicht. Selbst der Einsatz seiner Willenskraft und Liebe machte den Vorteil mentaler Wandelbarkeit und energetischer Durchlässigkeit, den die alten Meister besaßen, nicht wett. In der Blüte seiner Jahre war Mauro zu kompakt. Also blieb ihm nur die Möglichkeit, sich mit seinem Astralkörper von seinem physischen Leib zu entfernen. Das war technisch nicht schwierig, doch mit einigen Gefahren verbunden. Yvo konnte ein Lied davon singen. Bei einem Ausflug ins Heerlager von Yian Mah hatte er zu viel gewagt. Beinahe wäre die Verbindung abgerissen und Yvo hätte nicht mehr zurückkehren können. Mauro, der mit dieser Technik viel weniger Erfahrung besaß als sein Bruder, war sich der Risiken wohl bewusst. Die Reise musste gut vorbereitet werden.
Wie bereitete man sich vor mit dem ständig wachsenden Druck, dass der Liebsten ein Leid geschah? Mit der Sorge, dass Barren sie zum Spielball seiner Bosheit gemacht haben könnte? Mit der Angst, zu spät zu kommen, wie damals bei Shio Ban? Mauro drehte sich im Kreis. Er schaffte es nicht an diesem und auch nicht am darauffolgenden Tag, sich aus seinem Körper zu lösen. Bald meinte er, vor Sorge den Verstand zu verlieren.
Er brauchte Hilfe. Doch wer konnte ihm beistehen? Der Reihe nach ging er alle alten Zauberer durch. Er fand keinen, dem er sich anvertrauen mochte.
Keinen? Doch, es gab einen: Altmeister Schlobart. Mit ihm konnte Mauro ohne Scheu von seiner Sorge um die Liebste sprechen. Ihn konnte er um Hilfe bitten.
„Es ist leichter, als Ihr denkt“, ermutigte ihn der alte Meister. „Die Technik, Euch aus eurem Körper zu lösen, beherrscht ihr längst. Ihr seid doch öfters in die Anderwelt gereist.“
Mauro seufzte: „Der Übergang zwischen den Welten fällt mir leicht. Doch diesmal muss ich mich durch die Alltägliche Wirklichkeit bewegen und mich vor Sigrun, einer Nichtzauberin, sichtbar manifestieren. Das ist ungewohnt für mich.“
„Es ist auch nicht schwieriger, als sich in anderen Dimensionen zurechtzufinden“, erklärte Schlobart. „Hier wie dort gibt es Gefahren. Die Sorge um Eure Liebste macht Euch angreifbar. Es ist besser, ich begleite Euch und passe auf Euch auf!“ Schlobart machte sich auf den Weg zu Mauro und führte ihn durch die Vorbereitung.
Bald schon flogen sie Seite an Seite über die weite Ebene. Sie folgten dem Feuerfluss nach Norden und überquerten das Graue Gebirge. Der Gilgor tauchte unter ihnen auf und verschwand ebenso schnell. Die Strecke von Westgilgart nach Glancanas glich einem Flügelschlag. Bald schon erstreckten sich die dichten Wälder des Elfengebirges zu ihren Füßen. Mauro meinte gar, den Birkensee in der Ferne schimmern zu sehen. Unbeirrbar folgte er dem Signal, das ihn zu seiner fernen Geliebten führte.
Schließlich landeten sie in einem dichten Wald. Vor lauter Bäumen konnte Mauro erst nichts sehen. Dann erspähte er Sigrun. Mit ein paar anderen Frauen stand sie an einer Quelle. Sie war gerade dabei, sich zu waschen. Die Röcke hatte sie hochgeschürzt und das Mieder geöffnet. Wie sie sich eine Strähne ihres widerspenstigen Haares aus der Stirn strich, sah sie allerliebst aus.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Mauro: ihr war kein Leid geschehen. Während er noch überlegte, ob er sie ansprechen durfte, wurde sie seiner gewahr. In ihrer Miene meinte er Erschrecken zu lesen. Natürlich, sie in diesem leicht bekleideten Zustand zu überraschen war höchst ungebührlich. Er winkte sie zur Seite und bedeutete ihr, dass er nicht hinsehen würde, bis sie sich wieder bedeckt hatte. Schlobart lenkte inzwischen die Gefährtinnen ab, um ihnen eine ungestörte Unterhaltung zu ermöglichen.
Als er ihr gegenüber stand, merkte er sofort, dass es nicht nur das Erschrecken über sein plötzliches Auftauchen gewesen war. „Was ist Euch, Liebste?“ fragte Mauro besorgt. „Ihr wirkt so verstört?“
Sie sah ihn voller Verzweiflung an: „Mein Herr, es ist vorbei.“
„Was heißt das: es ist vorbei?“ fragte Mauro irritiert. „Ich wähnte Euch in großer Not. Nun bin ich über die Maßen glücklich, Euch wohlbehalten hier zu sehen…“
„In der Tat bin ich in großer Not. Mein Bruder hat entschieden, mich einem anderen Manne zur Frau zu geben!“ stieß Sigrun verzweifelt hervor.
„Konntet Ihr Euch nicht dagegen verwahren?“
„In diesem Falle nicht“, sagte Sigrun betrübt. „Sie haben meines Oheims Tochter als Geisel genommen.“
„Die Tochter von Dietrich vom Birkensee, Eurem Gastgeber?“ fragte Mauro ungläubig.
„Sie drohen, Ihr ein Leid anzutun. Dietrichs gesamte Sippe wollen sie zur Rechenschaft ziehen, wenn ich nicht gehorche.“
„Dann habt Ihr mich vor einigen Tagen tatsächlich um Hilfe gerufen?“ fragte Mauro niedergeschlagen. „Ich wünschte, ich wäre früher gekommen.“
Sigrun verstand nicht: „Ich wollte Euch rufen, wollte berichten, was vorgefallen ist. Doch der Anführer hat mir den Mondstein weggenommen, das Pfand Eurer Liebe. Ohne ihn kann ich nicht mit Euch kommunizieren!“
„Den Mondstein weggenommen? Wie kommt er darauf? Was sind das für Brautwerber, die Euch mit Gewalt bedrohen?“ Mauro dachte sofort an Barren.