Alleine schon die Tatsache, dass Ambrosius' ältester Sohn gemeinsam mit Yanns jüngstem Bruder hier auftauchte und die Größe der beiden Kontingente, deuteten darauf hin, dass die beiden eigensinnigen Herzöge die Invasion der Engländer als eine Bedrohung für ihre eigenen Grenzen ansahen. Darum fanden sie sich ausnahmsweise einmal bereit, zusammen mit Orléans, Armagnac und allen anderen auf Seiten der Valois zu kämpfen, anstatt wie üblich geduldig abzuwarten und zuzusehen...und sich hinterher aus den Überresten der geschwächten Gegner straflos zu bedienen, wie gierige Aasvögel.
Und sie würden kämpfen. Boucicault spürte es. Bald.
Henry, der Sohn des Thronräubers und Mörders Lancaster, wollte diesen Krieg, der während der letzten zwanzig Jahre zu einem unbehaglichen Waffenstillstand zwischen ihren beiden Ländern geworden war, um jeden Preis wieder aufflammen lassen.
„Um jeden Preis“, murmelte Boucicault, während er seine Augen von der jungen Schar aus der Bretagne und aus Cornouailles abwendete, „ und der Preis ist die Normandie, und die soll der Engländer um nichts in der Welt bekommen...So helfe uns Gott.“ Der Marschall stieß seinem Pferd scharf die Sporen in die Flanken.
Morgen, bei Tagesanbruch, würden sie aufbrechen und Lancaster entgegen ziehen. Henry hatte nach einer schmerzhaften wochenlangen Belagerung den Hafen Harfleur genommen und dabei zweitausend seiner zehntausend Soldaten in den Marschlanden und auf den Schanzen vor der befestigten Stadt gelassen. Weitere zweitausend verrotteten, krank oder sterbend. Die unwilligen Bürger von Harfleur unterstützt von Schwärmen hungriger Stechfliegen, hatten dem Engländer schnell den Mut für seinen kühnen Plan genommen, die Eroberung der Normandie zu beginnen und noch vor Wintereinbruch 1415 auf Paris zu ziehen. Boucicault war zufrieden: Sie würden fünfundzwanzigtausend Ritter und Fußsoldaten gegen die ausgeblutete Handvoll Bogenschützen und Ritter und den jungen Taugenichts Henry werfen, den sie nur darum ihren König nannten, weil sein Vater skrupellos Richard II. Tudor umgebracht hatte.
Ein schmutzig aussehendes Soldatenweib riss gerade noch ihr halbnacktes Balg aus dem Weg, bevor die schweren, eisenbeschlagenen Hufe des gewaltigen, dunkelbraunen Brabançonner, den der Marschall ritt, den vom Regen durchweichten Boden zu Matsch schlugen. Hinter einem Wagen der zu den Kriegsleuten von irgendeinem kleinen Seigneur gehörte, der mit Anjou gekommen war, kläffte ein großer, italienischer Kriegshund wütend über den unerwarteten Aufruhr. Boucicault sah, wie der Armbrustschütze, der den wildgewordenen Köter mit einem Nagelhalsband kaum zu bändigen vermochte, dem Tier einen herben Tritt in die Rippen versetzte, damit es sich wieder hinlegte. Irgendjemand schimpfte in einem unverständlichen Dialekt aus den südlicheren Regionen Frankreichs auf das arrogante, prunksüchtige Adelspack, das ihrer aller Untergang sein würde.
II
Der Mann hatte seine Arme um den Knaben gelegt und drückte ihn fest an sich. Leise zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Verfluchter Verräter. Zur Hölle sollst Du fahren und in unendlichen Qualen brennen. Ich verfluche Dich und Dein Blut und das Blut Deines Blutes bis in die siebte Generation.“
Der dem sein Fluch galt, hatte ihn weder gehört, noch bemerkt. Er stand zufrieden an der Seite des breitschultrigen, stiernackigen Richemont, dessen gutaussehendes und von der Sonne tiefbraun gefärbtes Gesicht von unendlich vielen Lachfalten durchzogen war. Er nahm fröhlich am Begrüßungsritual und allgemeinen Schulterklopfen mit den Barbaren teil und deutete mit der Rechten stolz auf die Reiter, die er mitgebracht hatte.
Jean de Craon konnte nicht hören, worüber sein Sohn Amaury so lebhaft mit dem Erben der Bretagne und dem schwarzhaarigen Keltenprinzen diskutierte und es interessierte ihn auch nicht. Alles was Bedeutung hatte, war das der Verräter sich in Rouen befand und mit d’Albret und Boucicault ziehen würde. Die stechenden, grauen Augen des hageren Mannes mit dem dünnen Spitzbart und den glanzlosen, von grauen Strähnen durchzogenen, hellbraunen Haaren verengten sich zu Schlitzen. Leise fluchte er weiter, während er dem Knaben, den er in seinen Armen geborgen hielt, sanft über die dunkelbraunen Locken strich. Die Armee würde sich bald auf den Weg machen.
Der Seigneur von Champtocé, Tiffauges, Craon und Laval hatte seine Männer nicht nur mitgebracht, um Engländer totzuschlagen. Der Hass in seinen Augen verglühte langsam, als er sich ausmalte, wie einfach es in diesem Aufruhr sein würde: Ein scharfes Messer in der Nacht, ein Pfeil irgendwo in einem Wald, ein Schwert im Kampf. Niemand würde sich darüber wundern, wenn der Erbe des de Craon-Vermögens starb. Viele die an diesem Herbstmorgen noch lachten, Witze rissen und mit ihren Waffenkünsten prahlten, würden das Weihnachtsfest nicht erleben. Im Krieg starb man: An Erschöpfung, an Krankheiten, an einer Verletzung. Der Krieg war auch eine wunderbare Gelegenheit, um persönliche Probleme diskret zu beseitigen.
Er hatte es ein paar Mal in Rennes versuchen lassen. Doch am Hof des Montforzh konnten sie einfach nichts ausrichten. Der Bretone war ein misstrauischer Mann, sein Bruder Richemont ein wahrer Wachhund. Niemand näherte sich dem Herzog von Breizh mit einer Waffe in der Hand. Niemand betrat den Palas mit einem Objekt, das zu Töten vermochte. Gift ins Essen zu mischen war genauso unmöglich, denn nicht einmal die geringste Küchenmagd war bereit für ein paar Goldstücke ihre Haut zu riskieren. Montforzh behandelte seine Leute anständig. Aber solange der Verräter Amaury am Leben war, würde Gilles immer nur an zweiter Stelle stehen. Also musste der Schweinehund verschwinden.
Jean de Craon presste die dünnen, blassen Lippen fest zusammen, um nicht vor Zorn und Hass laut aufzuschreien. Amaury. Er verfluchte die Nacht, in der er das Balg gezeugt hatte. Schlechtes Blut. Undankbare Brut.
Richemont hatte den linken Arm um den widerlichen Sohn gelegt, mit dem er gestraft war und der es gewagt hatte ihn vor aller Welt den Teufel von Champtocé zu schimpfen. Die Rechte des Bruders von Yann de Montforzh ruhte auf der Schulter des farbenprächtig herausgeputzten, langhaarigen und mit Goldschmuck behängten Barbaren. Vermutlich einer aus Cornouailles, von der Atlantikküste. Dort verehrten sie heimlich immer noch die alten, verbotenen Götter. Sie beteten zu Bäume oder stehende Steine, heiligten Quellen und zündeten Feuer an, um reiche Ernte zu erwirtschaften. Amaury hatte sich feine Freunde gefunden. Für das heidnische Barbarenpack ließ er seine Familie im Stich. Er würde es schon bald bereuen.
Das Kind in den Armen des bitteren, alten Mannes nahm die Flüche und Gefühlsausbrüche seines Großvaters überhaupt nicht war. Es kannte Amaury de Craon lediglich aus wagen Erzählungen der Leute auf Champtocé. Die wenigen Geschichten über den Bruch mit dem Vater, murmelten sie hinter vorgehaltener Hand, wenn der Herr nicht auf der Festung war oder sich in seinen Gewölben mit seiner Forschungsarbeit beschäftigte.
Gilles’ Augen hingen nicht an Amaury de Craon, dem Objekt des Hasses und des Zorns seines Großvaters, sondern an einem Mann, den er noch nie zuvor im Leben gesehen hatte: Der Knabe beobachtete Aorélian de Douarnenez.
Gilles war ein aufgewecktes Kind. Er war für sein Alter ungewöhnlich groß und kräftig. Niemandem im Feldlager vor Rouen war aufgefallen, dass er erst elf Jahre alt war. In seinem