Aodrén war inzwischen stehengeblieben und hatte mit einer energischen Handbewegung seinen Stab in den Boden gestoßen. Dann nahm er das kleine, grün eingepackte Bündel vorsichtig in beide Hände und hielt es hoch über den Kopf damit alle es sehen konnten. Die Anstrengung der vergangenen Nacht stand ihm zwar ins Gesicht geschrieben, doch seine Stimme war energisch und fest, als er den Menschen und dem Herzog von Cornouailles den gesunden, lebendigen Knaben zeigte, dem die weiße Dame von Concarneau unter den Feuern von Bealltainn das Leben geschenkt hatte.
„Er ist nicht nur der dritte Sohn unseres Herzogs“, flüsterte der junge, dunkle Mann Guy de Chaulliac ins Ohr, „er wurde auch im Zeichen des Lichtes geboren. Die stehenden Steine von Carnac haben endlich wieder einen neuen Herrn.“
Der Okzitanier seufzte und ergab sich in sein Schicksal. Jene düsteren Gedanken und Pläne, die noch bis vor kurzem in seinem Kopf herumgeschwirrt waren, hatte er bereits verdrängt.
Aodrén wäre niemals so verrückt gewesen, ein totgeborenes Kind hierher zu bringen, denn er war nicht dabei gewesen, als Ambrosius Arzhur zu seinen Leuten gesprochen hatte und konnte deshalb auch nicht wissen, auf welches waghalsige und gefährliche Spiel der Herzog sich eingelassen hatte.
„Woher wisst Ihr eigentlich, dass der Ollamh uns allen einen Knaben vorführen möchte, “rächte er sich mit einer überaus schnippischen Frage an seinem Bezwinger. Der junge, dunkle Mann liest ihn los und klopfte ihn freundschaftlich auf die immer noch schmerzende Schulter: „Für die Knaben gibt es nur einfaches Grün, Meister Chaulliac“, erwiderte er ebenso schnippisch und sehr selbstbewusst, „bei den Mädchen mag der Ollamh es farbenprächtiger und spektakulärer: Er wickelt sie immer in das Drachenbanner von Wales, die Farben unserer Herzogin.“
Inzwischen hatten sich schon zahllose Menschen an ihnen vorbeigedrängelt und versperrten die Sicht. Ein paar Mönche, die zuvor unweit der Tafel von Chaulliac eifrig dem Wein zugesprochen hatten, waren sogar in die Knie gesunken und sprachen offensichtlich ein Dankgebet für die glückliche Geburt des jüngsten Prinzen von Cornouailles.
Er schüttelte leicht den Kopf und dachte daran, wie dieselben, überschwänglichen Gottesdiener im gegenteiligen Fall wohl ebenso enthusiastisch Ambrosius' Ketzerei verurteilt hätten. Inzwischen war es sogar seinem Freund gelungen, sich einen Weg bis zu Aodrén und zu seinem kleinen Sohn zu bahnen. Guy stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, um wenigstens ein klein wenig von dem ganzen Spektakel mitzubekommen.
Der Herzog strahlte. Die ganze Last der langen Nacht war von ihm abgefallen. Seine Augen leuchteten, während er sich leise ein paar kurze Augenblicke mit Aodrén zu beraten schien, der ihm schließlich irgendetwas ins Ohr flüsterte. Dann nahm er das kleine, grüne Bündel aus den Armen des alten Mannes entgegen und erkannte damit gemäß der alten Sitte dieses Kind offiziell als seinen Sohn an.
Das meiste, was der Herzog zu seinen Leuten sagte, während er den inzwischen ausgesprochen griesgrämigen, kleinen Kerl hochhielt verstand Guy de Chaulliac nicht. Für ein zu früh geborenes Kind konnte der Prinz von Cornouailles nämlich gewaltig schreien. Nur seinen Namen bekam er mit: Sévran de Carnac.
Den Leuten und dem jungen, dunklen Wächter schien dieser Name gut zu gefallen, denn sie riefen ihn ein paar Mal laut und enthusiastisch, bevor sich Aodrén endlich des kleinen Bündels erbarmte und es seinem Vater wieder abnahm, um es zurück in die Festung zu tragen, wo es sich im Arm seiner Mutter beruhigen konnte.
„Ich hoffe Du wirst einmal mit genauso viel Verstand gesegnet sein, wie Du heute Nacht Glück gehabt hast, Sévran de Carnac“, schickte er dem kleinen Prinzen von Cornouailles seine ganz persönlichen guten Wünsche hinterher. Dann lies er sich von der begeisterten Menschenmenge widerstandslos zurück zu den Festtafeln schieben. Ein paar kräftige Mägde schleppten bereits frische Krüge mit Wein und Bier zu den Tischen und er beschloss, dass man die Nachricht für den Großmeister des Ordens auch durchaus erst am nächsten oder übernächsten Tag auf den weiten Weg gen Osten schicken konnte.
Kapitel 1 Das Amulett
I
Boucicault schmunzelte, als er das Wappen erkannte. Schwarz hob es sich von dem hellgrünen Schild ab, als der junge Mann sein Pferd auf der Hinterhand wendete: Zwei mächtige Drachen hielten zwischen ihren Klauen ein Pentagramm, dessen Spitze gen Himmel zeigte. Also hatten sogar sie sich dieses eine Mal dazu durchgerungen Partei zu ergreifen. Charles d’Albret hatte es geschafft. Der Konnetabel von Frankreich hatte innerhalb von nur zwei Monaten eine riesige Armee vor den Toren von Rouen gesammelt. Und es erweckte den Anschein, als ob diese Armee bereit war, für die Sache der Valois zu kämpfen.
Die großen Seigneurs von Frankreich waren alle nur selbstsüchtige, eigenwillige, untereinander verfehdete Individualisten, die lediglich auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren und ihre militärische Stärke am liebsten meistbietend versteigerten. Charles VI. de Valois, den man seit seinem misslungenen Feldzug gegen die Bretagne im Jahre 1392 als den wahnsinnigen König belächelte, konnte für gewöhnlich nur wenig von ihnen erwarten...am allerwenigsten Loyalität zu seinem Haus.
Boucicault hatte gehofft, dass Ambrosius Arzhur de Cornouailles und sein Nachbar und Busenfreund Yann de Montforzh ihre sture Neutralität und ihre aufrührerischen Unabhängigkeitsgedanken wenigstens dieses eine Mal im Augenblick der größten Gefahr für das Überleben von ganz Frankreich hinter dem Interesse aller zurückstellen konnten.
Genauso, wie die Burgunder: Jean Sans Peur und seine beiden Brüder waren mit einem ansehnlichen Kontingent in Rouen eingetroffen, obwohl Gerüchte umgingen, dass der Herzog immer noch mit dem Gedanken spielte, heimlich mit den Engländer gemeinsame Sache zu machen.
Der mit dem teuflischen Schild und dem nachtschwarzen Kriegspferd, dem man seine hispanischen Vorfahren deutlich ansah und das vermutlich ein kleines Vermögen gekostet hatte, war gewiss Cornouailles’ ältester Sohn Aorélian de Douarnenez, der Erbe der Herzogskrone des geheimnisumwobenen, kleinen Fürstentums an der sturmgepeitschten Atlantikküste am äußersten Zipfel Frankreichs; Penn Ar Bed – das Ende der Welt.
Douarnenez schien eine Hundertschaft Berittener zu bringen. Das war eine beachtliche Anzahl von Männern, wenn man in Betracht zog, wie unwirtlich das Küstenland Armôr und die Wälder des Argoat mit den Monts Arée waren. Sein Vater, der Herzog Ambrosius Arzhur, hatte vermutlich jedes einzelne Kriegspferd für hartes Gold in der Normandie gekauft. Dazu kamen noch einmal fünfhundert oder sechshundert Bogen- und Armbrustschützen.
„Salud dit, Arzhur!“, hörte Boucicault den jungen Mann in seiner Muttersprache fröhlich durch den Lärm des Feldlagers vor den Toren der Stadt Rouen rufen.
„Gant pasianted ha hir amzer, E vez graet meur a dra, Aorélian. – Gut Ding will Weile haben“, schrie Arzhur de Richemont zurück. Der jüngste Bruder des bretonischen Herzogs Yann de Montforzh hievte sich vom langen Ritt etwas steif aus dem Sattel eines bildschönen Goldfuchses mit eindeutig orientalischen Vorfahren. Hinter Richemont flatterte seine berüchtigte weiße Kriegsfahne mit dem Eber, der Eiche und dem arroganten Motto „Que qui le vueille! – Wer mit mir Streit sucht, der wird ihn finden!“
Die Männer aus Rennes waren eben erst angekommen, obwohl ihr Weg um vieles kürzer gewesen war, als der aus Concarneau von der wilden Felsenküste des Penn Ar Bed. Der junge Douarnenez lenkte seinen Schwarzen geschickt durch die Bogenschützen hindurch