Die beiden Straßen zu meinem Elternhaus ging ich zu Fuß und ließ den Scirocco gegenüber der Backstube stehen. Es war erschreckend wie wenig sich seit meiner Kindheit dort geändert hatte. Der unaufdringlich lilafarbene Lavendel, von Frau Krämer wuchs immer noch ungehindert über ihre Grundstücksgrenze auf den Bürgersteig. Ihre Nachbarin und wohl eine waschechte Erbsenzählerin, Frau Hambücken, hatte jahrelang jeden Herbst den überwachsenden Lavendel moniert und bestand darauf, dass die Büsche zurück geschnitten wurden. Als Pit und ich etwa acht Jahre alt waren, fanden wir hinter dem Haus meiner Eltern ein totes Eichhörnchen und fanden, dass es begraben werden musste. Allerdings bestattet wir es nicht im eigenen Garten, sondern wir suchten uns Frau Krämers Lavendel als Grabstätte aus. Sie kreischte hysterisches, als sie das halb verrottete Nagetier fand und warum auch immer, verdächtigte sie wohl Frau Hambücken, ihr das tote Tier untergeschoben zu haben. Diese bestreitet das noch heute.
Weiter die Straße entlang, am Grundstück der Familie Gerbhoff vorbei, erinnerte ich mich an die schönen Grillabende die wir dort verbracht hatten. Die Rauchschwaden gefüllt mir dem Duft von Würstchen, Koteletts und einigem an Gemüse. Bis in die tiefsten Sommernächte hinein in denen es spät Abends noch Toffifee in Blätterteig vom Grill gegeben hatte. Die Gerbhoffs hatten zwei Kinder, damals etwa in meinem Alter. Die Zweieiigen Zwillinge Hanna und Yannik. Soweit ich wusste, hatten beide das Dorf kurz nach mir verlassen. Hannah ging nur nach Koblenz um Pferdewirtin zu lernen, während Yannik sich in die Hauptstadt Berlin verguckt hatte. Oder in die Straßenmusikerin Jojo. Das konnte niemand so genau wissen. Jedoch genau wusste ich, dass der vierte Stein von rechts, der oben auf der Steinmauer lag, noch immer lose war. Er hatte sich vor etwa 15 Jahren aus dem Zement befreit und lag dennoch an der selben Stelle. Verblüffend wie man sich an solche Banalitäten erinnern kann. Natürlich kam ich nicht umhin daran zu wackeln und mich von der Richtigkeit meiner Erinnerung zu überzeugen.
Als ich um die perfekt getrimmte, grüne Hecke an der Straßenecke bog, die zum Grundstück des Ehepaars Heiner gehörte, konnte ich den grünen Landrover meines Vaters bereits in der Einfahrt stehen sehen. Zuvor hatte ich die leise Befürchtung, dass Frau Heiner, in ihrem weißen Klappstuhl mittig auf dem leicht erhöhten Rasen sitzen würde, von wo aus man einen fantastischen Blick über die Straße hatte. An diesem Tag tat sie es nicht.
Es war ein älteres Modell des Landrover, welcher von meinem Vater jedoch liebevoll gepflegt und ich Schuss gehalten wurde. Die braune Ledergarnitur machte noch immer einen nagelneuen Eindruck. Ich spähte hinein, als ich am Wagen vorbei ging.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu klingeln und drauf zu warten herein gelassen zu werden, stattdessen umrundete ich das Haus und sah genau das, was ich auch erwartet hatte. Der runde Tisch auf der Terrasse war zum Frühstück gedeckt gewesen, wenn auch das Frühstück schon vorüber gewesen war. Meine Mutter entdeckte mich als erste und klatschte vergnügt in die Hände. Eine liebevolle Unart, wie ich schon vor vielen Jahren feststellte. Immerhin wusste sofort jeder, dass etwas geschehen war. Von ihrem Gesicht konnte man zeitnah ablesen, ob es sich um eine gute, oder eine schlechte Sache handelte.
Meine Mutter lächelte und nickte mir zu. Sie fasste auf die Armlehne des Stuhls neben ihr, der mit dem Rücken zu mir stand. Meine Großmutter erhob beide Hände zum Gruß und winkte.
«Linus!», flötete meine Großmutter. Nachdem ich mich aus der Umarmung meiner Mutter lösen und ich mit Mühe den erstaunlich festen Klammergriff meiner Großmutter lockern konnte, küsste ich beide Frauen noch auf die Stirn.
«Will, unser Sohn ist hier,» rief meine Mutter aus vollem Hals, ohne sich zu rühren oder mich aus ihrem Blick zu entlassen. Noch so eine Unart. Die zu überwindende Strecke machte sie mit höherer Lautstärke wett. «Noch ein Überraschungsgast dieses Wochenende», quietschte sie vergnügt. Und dies war auch schon das dritte unverkennbare Erkennungsmerkmal meiner Mutter. Normalerweise würde ich behaupten, dass erwachsene Frauen nicht quietschten. Diese schon.
Eh ich nach meinem Vater fragen und meine Mutter zu ihrem Monolog über mein spärliches Kommunikationsverhalten ansetzen konnte, stand er auch schon in der Schiebetür zur Terrasse, seinen Tennisschlager und eine grüne Sporttasche geschultert.
«Junge!», sagte mein Vater trocken. Für seine zurückhaltende Freude war ich ihm dankbar. So wenig ich natürlich meiner Großmutter oder meiner Mutter böse sein konnte für ihre überschwängliche Freunde meines überraschenden Besuches. Unangenehm war es mir dennoch. Ich wusste schon längst, dass sie mit ihrem angehenden Arzt-Sohn in Köln prahlten und nur ungern hätte ich ihr Bild von mir enttäuscht.
«Hi Dad. Auf dem Sprung?»
«Ja. Herbert hat auf ein Revanche bestanden. Leider hatte er das letzte Mal keine Chance gegen meine äußerst glückliche Rückhand.» Mein Vater war seit ich mir zurück erinnern konnte, ein leidenschaftliche Tennisspieler. Bisher hatte er, sportlich gesehen, das ganze Dorf und schon einige Gegner aus Nachbardörfern gegen sich aufgebracht.
Er nahm mich an der Schulter und zog mich ein Stück zurück um Auto. «Wie lange bleibst Du?»
«Bis Sonntag. Ich bleibe bei Pit.»
«Gut, dann sehen wir uns später noch.» Er klopfte mir noch einmal auf die Schulter, bestieg seinen Wagen und fuhr aus der Einfahrt. Seine geradlinige Art und sein direktes Wesen ohne verletzend zu sein, fiel einem als Erstes an ihm auf, allerdings hatte ich es erst in den vergangen Jahren angefangen es zu verstehen. Er war eine leidenschaftliche Person, aber nie verschwenderisch mit Herz und Verstand. Das Gegenteil meiner Mutter, die jeden und alles mit überschwänglichen Worten, Gesten und ihr selbst überschüttete.
Ich sah zurück zur Terrasse und meine Mutter stand mit einem weiteren Frühstücksgedeck in der Tür und lächelte. Beide sahen mich erwartungsvoll an. So kam ich nicht umhin zu berichten, wie es im Studium lief, an der Uni, was ich im Krankenhaus gemacht hatte und wie ich mit meinen WG Mitbewohnern zurecht kam, während ich mir Brötchen mit Nutella und Erdbeeren mit Milch gönnte. Ihre Neugierde befriedigte ich gerne, ohne selbst zu sehr über mein Leben in Köln nach zu grübeln. Kommenden Sonntag Abend musste ich zurück fahren und zusehen, dass ich genug Erholung mit mir nahm.
Als meine Mutter begann den Tisch abzuräumen zuckte meine Oma fast unmerklich zusammen, dennoch hatte ich es bemerkt. Mein Mutter ging ins Haus und kündigte an, eine neue Kanne Kaffee zu kochen. Der Enkel in mir wollte indes nur seine alte Großmutter sehen und der angehende Mediziner in mir konnte es nicht lassen.
«Alles in Ordnung?» fragte ich schließlich besorgt nach.
Mit zitternder Hand winkte sie ab, doch das schubste nur den Enkel beiseite um dem Mediziner vollends in mir auszufüllen. Ich rutschte mit meinem Stuhl näher an ihren und beugte mich ein Stück zu ihr. Sie blickte nur an mir vorbei und zur Terrassentür. Zuerst schien sie zu zögern und holte Luft, doch dann schwieg sie doch.
«Geht es Dir nicht gut. Möchtest Du dich etwas ausruhen?»
Sie regierte nicht so, wie man es von älteren Damen gewohnt war, sondern recht ruppig.
«Ach was. Ich liege noch genug, wenn ich tot bin.» Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen schnappte sie nach meinen Handgelenken, so dass meine Hände optisch etwas hilflos in der Luft hingen. Meine Verwunderung konnte ihr unmöglich entgangen sein, denn sie drückte fester zu.
«Linus!», zischte sie plötzlich. Und sie war mir völlig fremd. Ihr gutmütiger Gesichtsausdruck, das liebevolle Lächeln und die durch das Alter gegebene Zerbrechlichkeit schienen verschwunden. Stattdessen blickte mich ein ängstlich gehetztes Gesicht mit tiefen Sorgenfalten an.
«O-Oma, lass mich Dich untersuchen. I-Ich...» Doch ich hielt schnell inne, als sich ihre Augen weiteten. Für einen kurzen Moment war ich wieder nur der Enkel, den die schreckliche Angst überkam, dass seine Oma gleich vorn ihm im Stuhl zusammen klappen würde. Aber endlich bekam auch der Mediziner wieder etwas Platz und ließ mich erkennen, dass sie nicht kurz davor war zu sterben, doch beinahe in Panik war.
«Es ist nicht viel Zeit Linus, also hör mir sehr genau zu.»