«Herr Harris, ich muss von Ihnen wissen, wie viele Jahre vergangen sind? Und glauben Sie mir, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.» Er grinste schmierig.
«Wie viele Jahre vergangen sind?», echote ich.
Anton blickte mich nur neugierig und erwartungsvoll an. In meinem Kopf rotierte es. Wie viele Jahre was? Jahre? Wie viele vergangen sind? Präsens. Meine Gedanken flipperten hin und her, zwischen meiner Oma, der Vase und diesem schmierigen Notar und meinem Umschlag, den ich unbedingt haben wollte.
Wie alt meine Oma geworden war? Das wäre zu einfach, das stand in der Todesanzeige. Und es war Vergangenheit. Vielleicht ein Ereignis aus meiner Kindheit wovon nur ich wusste?
Das nur ich davon wusste, davon konnte ich wohl ausgehen, schließlich hatte ich alleine dort gesessen und Anton erwartete sonst niemanden mehr.
«Nun?», drängelte er.
Etwas was nur ich wusste! Wie viele Jahre vergangen sind?
Es konnten nicht allen Ernstes die 1619 Jahre sein, welche die römischen Ziffern mir angezeigt hatten. Unmöglich konnte ich ihm diese Jahreszahl einfach so nennen. Doch von 2011 bis 1619? Das sind Jahre. Es sind 392.
Anton begann mit seinen Fingerspitzen auf den darunter liegenden Blättern herum zu trommeln.
Ich hatte keine Wahl, oder?
«392», schoss es aus mir heraus.
Nun war es an dem Anwalt die Augen aufzureißen und seine Miene verfinstere sich wieder. Er wuchtete sich aus seinem Stuhl und ging zu einer der Aktenschränke.
«Dass ich das noch erlebe»,murmelte er.
In dem Aktenschrank befand sich ein Tresor, an dessen Schloss er sich zu schaffen machte. Den Inhalt konnte ich jedoch nicht sehen, weil er mir den Rücken zudrehte. Mir Schwung fiel zuerst der Tresor und dann der Aktenschrank ins Schloss.
Schließlich nahm ich einen vergilbten Umschlag und meinen Ausweis in Empfang.
«Bitte hier quittieren!», verlangte Anton und legte Papier und Stift vor mich auf den Tisch.
«Darf ich fragen in welcher Beziehung Sie zu der Verstorbenen standen?» Auch diese Frage überraschte mich, allerdings sollte ich mich allmählich an Überraschungen gewöhnt haben. Trotzdem war ich unschlüssig, ob ich lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Ich war leider sogar unschlüssig wie eine Lüge hatte aussehen sollen.
«Vielen Dank dafür», sagte ich stattdessen. Unterschrieb auf dem Zettel, dass ich mein Erbe erhalten habe und verließ die Kanzlei. Verließ den muffigen Rohdiamanten und fuhr mit dem Rad Richtung Rudolfplatz.
In dem kleinen Starbucks auf der Ecke, bestellte ich mir einen Kaffee und zog mich auf einen der Sessel zurück.
Der Umschlag war dünn und alt. Ich öffnete ihn und was zum Vorschein kaum überraschte mich nicht – zu meinem Bedauern.
Mein lieber Linus,
nun ist es endlich an der Zeit.
Wenn Du diesen Brief erhalten hast, dann habe ich diese Welt verlassen und ich weiß nicht, ob ich noch mit Dir sprechen konnte. Glaube mir, nichts macht mir das Herz schwerer, als Dich im Unklaren gelassen zu haben. Du hast den Brief in der Hand und ich gehe nun davon aus, daß Du es annimmst. Niemand anders, schien mir würdiger zu sein, als Du es bist.
Du hast auch das Paket bereits erhalten und ich hoffe Du begreifst schneller als ich es damals tat. Es wird Dir helfen, auch wenn es nicht so scheint. Wenn Dir diese Hilfe nicht reicht, dann wähle Eric zu Deiner Hilfe. Er ist sehr loyal und ich schätze ihn sehr, als Deinen treuen Freund, doch berichte ihm nur das Nötigste.
Bitte benutze Dein Herz und Deinen Verstand, Linus! Laß Dich nicht in die Irre führen und glaube an Dich.
Finde Aenlin! Einen besseren Rat, kann ich Dir hier nicht mehr geben.
Du bist die letzte Chance!
Deine Oma,
Ludovika Harris
Es hing also alles zusammen. Der Brief war der Beweis und das schwarz auf weiß. Und ich hing bereits mittendrin. Jeden Zweifel den ich gehegt und gepflegt hatte, war nun ohne jede Daseinsberechtigung.
Meine Pause am Nachmittag wollte ich also im Keller der Uniklinik verbringen. Im Keller, oder in der Vergangenheit? Doch ich fragte mich, ob ich nochmal einen unvorbereiteten Trip riskieren sollte oder lieber einige Vorkehrungen traf. Ich schnappte nach Luft und mir wurde leicht schwindelig. Es stand außer Frage, dass ich es noch einmal tun musste. Es schien mein Erbe zu sein auch wenn ich es noch immer nicht begriffen hatte, wie ich, Linus, die letzte Chance für irgend jemanden sein konnte. Meine Oma hatte mich für irgend etwas eingeplant, womöglich schon, eh ich überhaupt laufen konnte. Hatte ich also noch überhaupt eine Chance aus der Nummer wieder heraus zu kommen? Wurde ich irgendwann einmal gefragt ob ich tun wollte, was ich höchstwahrscheinlich tun musste oder hatte ich das schlichtweg verpasst? Sie hatte mir nur vage Hinweise geschickt, doch ich wusste sie nicht zu deuten und ich wusste nicht, was sich hinter Aenlin verbarg. Dieser Name war bereits gefallen, als meine Großmutter mich auf der Terrasse meiner Eltern eindringlichst angesehen und die absurdesten Sachen gesagt hatte. Ich war absolut nicht sicher ob ich Aenlin jemals finden würde, doch ich spürte etwas, was Ehrgeiz ähnelte. Ich war angespornt und neugierig zu wissen, was es mit all dem auf sich hatte. Es schwang auch ein Hauch Angst, Respekt und Unsicherheit mit. Dabei war schon eines sicher, dass ich keinen Schimmer hatte, was mich erwartete.
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