Die Zeitlinie. Carolin Frohmader. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Frohmader
Издательство: Bookwire
Серия: Petrichor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738092622
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auf der zweiten Stufe unter seinen Füßen. Jedoch dreht er sich nicht zu mir um.

      «Gesehen ja, aber ich glaube es nicht Linus. Das ist verrückt.»

      «Was ist schon verrückt? Aber die Soldaten waren echt. Die Rüstung war echt und wenn wir Pech haben, dann haben sie uns gesehen.»

      «Und was wenn?», Pit fuhr herum, kam auf die Couch zugelaufen und setzte sich vor mich auf den Tisch. Seine Ellbogen stütze er so lässig wie er konnte auf die Knie.

      «Was dann?», wiederholte er lang gezogen.

      «Mag sein, dass meine Großmutter das gemeint hat, als sie sagte... es sei ein Privileg und eine Bürde und dass ich vorsichtig sein soll. Ich habe nicht verstanden was sie wollte.»

      «Was immer das Ding da ist...», setze Pit an und fuchtelte mit dem Zeigefinger in Richtung Vase auf dem Küchentisch. «Ich will, dass es hier verschwindet.»

      Doch ich konnte nicht auf Pits Forderung eingehen, zu sehr hatte ich die römischen Ziffern im Kopf die sich mich immer weiter aufdrängten.

      «Hast Du noch nie Filme über Zeitreisen gesehen Pit?», raunte ich ihn an und stand auf. Etwas zu schnell, denn nun begannen die Ziffern zu kreisen.

      «Man darf die Vergangenheit doch nicht ändern heisst es immer. Wer weiß, was das mit der Gegenwart anrichtet und deshalb ist es wichtig, dass die Soldaten uns nicht gesehen haben. Also? Haben sie uns gesehen?», wollte ich eindringlich wissen.

      «Das... ist nicht Dein Ernst, oder?», stellte Pit diese rhetorische Frage.

      «Ich muss verstehen, was passiert ist. Und warum. Was meine Großmutter damit zu tun hat und warum mein Name auf der verdammten Kiste stand in der diese Vase war. Und wenn es bedeutet, dass ich es nochmal tun muss dann...», ich wusste zwar noch nicht wie ich diesen Satz beenden wollte, doch dazu kam es ohnehin nicht mehr.

      Pit stand ebenfalls auf und verschränkte die Arme vor der Brust.

      «So! Das reicht. Schaff es weg, oder ich tue es», fauchte er.

      So standen wir da. Pits verärgertes Gesicht aus dem ich deutlich die Angst lesen konnte, doch um die Freundschaft zu meinem besten Freund nicht weiter zu strapazieren, nahm ich die Vase an mich und klemmte sie mir wie einen Football unter den Arm.

      «Und wenn Du klug bist, dann wirst Du das Ding ganz schnell los», sagte er bitter und ließ mich stehen. Bevor ich noch etwas sagen konnte, verschwand Pit die Treppe nach unten.

      Nun hatte ich meine Vase und stand da wie bestellt und nicht abgeholt, doch mein nächstes Ziel hatte ich bereits im Visier. Jedoch wollte ich weder vorn heraus, durch den Verkaufsraum, noch hinten hinaus, durch die Backstube. Also entschied ich mich für die schmale Gittertreppe, die vom Schlafzimmer hinunter in den Garten führte. Von dort aus ging ich geradeaus in die Gartenlaube.

      Was ich vorfand, war genau das, was Pit bereits berichtet hatte. Sie war sauber und aufgeräumt und machte nicht den Eindruck als sei sie vor kurzem noch bewohnt worden. Der Kühlschrank war leer, außer der erwähnten versiegelten Ketchup Flasche. Nur das große Radio stand noch neben massiven hölzernen Truhe, in welcher meine Kiste aufbewahrt worden war. Sie stand frei direkt unter dem einzigen Fenster des Raumes. Vorsichtig hob ich den schweren Deckel der Truhe an, doch ihr Inhalt enttäuschte mich. Nur ein weiterer leerer Pappkarton befand sich darin. Ich ließ den Deckel bereits wieder sinken, als ich die graue Kordel entdeckte mit der auch meine Pappschachtel zugebunden war. Sie lag zerschnitten in dem leeren Pappkarton. Ich stemmte den Deckel wieder nach oben und lehnte ihn gegen die Wand. Der Karton war eindeutig leer bis auf die Kordel und trotzdem hob ich ihn heraus. Als ich die offenen Deckel zuklappte, entdeckte ich die schwache, aber noch deutlich erkennbare Inschrift auf der Oberseite.

       Joseph.

      Der alte Dernbach. Joseph Dernbach.

      War das wirklich möglich? Dass der alte Dernbach einst einen Karton erhielt, mit dem Inhalt eines weiteren Kartons mit meinem Namen versehen? Das war wirklich verrückt. Und ich hatte keine Erklärung dafür.

      Auf dem kleinen Tisch links neben der Tür lagen ein paar Zeitschriften und ein Kugelschreiber. Eines der Magazine schlug ich auf und suchte eine wenig bedruckte Seite und wurde bei einer Werbeanzeige fündig. Ich schrieb die Ziffern darauf, welche sich zuerst in mein Handgelenk und dann in meinen Kopf gebrannt hatten.

      Es dauerte eine Weile eh die sie wieder in die richtige Reihenfolge gebracht hatte.

      MDCXIX VIII VII

      Die vorn stehenden Ziffern, waren sehr hohe Zahlen, aber für den genauen Wert bemühte ich mein Smartphone und googelte eine Tabelle der römischen Ziffern. Demnach war M = Eintausend; D = Fünfhundert; und C = Einhundert. Dann wurde es schwieriger. X ist gleich Zehn, allerdings in Kombination mit I und weiteren X, kann es andere Werte bedeuten. Also eine Zehn und eine Neun, oder eine Elf und eine Zehn. Letzteres macht aber keinen Sinn, da die römische Ziffer für Einundzwanzig die XXI ist. Also eine neunzehn. Addiert ergabt das 1619.

      Meine Hände wurden schweißnass und begannen wieder zu zittern. Diesmal nicht vor Kälte sondern vor Anspannung. Einer Art Anspannung jedoch, die in keinem Vergleich zu einer solchen Anspannung steht, wie man sie vor einem ersten Date hat oder vor der ersten Visite mit Professor Rieck oder wenn man sich nach vermasseltem Leichen präparieren wieder in den Hörsaal trauen muss. Jene Anspannung war viel stärker und raubte mir beinahe jeden klaren Gedanken. 1619 war aller Wahrscheinlichkeit nach keine Uhrzeit, dafür waren die Ziffern zu hoch. Es musste die Jahreszahl sein. Die noch ausstehenden Ziffern waren einfacher. Zudem standen sie separat. VIII = acht; VII = sieben. 07. August 2011. Heute.

      Lautlos atmete ich ein und aus. Drehte und wendete das Papier mit meinen Notizen eh ich die Seite aus dem Magazin riss und sie in meine Hosentasche stopfte.

      Es war immer noch Vormittag, obwohl es nach meinem Gefühl schon Richtung Abend gehen musste. Plötzlich verspürte ich eine unbändige Hast. Und ich begann zu rennen. Mit meinem Football unter meinem Arm. Ich rannte um das Haus herum zu meinem Auto, verstaute meine unerklärliche Fracht im Fußraum hinter meinem Sitz und fuhr los.

      Ohne Umwege fuhr ich nach Hause und parkte in der Nähe der Wohnung im Stadtteil Sülz. Unweit der Uni und der Uniklinik selbst. Beides erreichte ich sonst mit dem Fahrrad besser als mit dem Auto.

      Der Schweiß rann mir über die Stirn und meine Brust fühlte sich klebrig an. Meine Hände zitterten wieder – oder noch immer. Plötzlich spürte ich wieder den weichen Boden unter mir, die bunten Blumen, das duftende Gras und den seichten Wind der lautlos durch die Bäume strich. Die friedliche Umgebung hüllte mich so sehr ein, dass ich Pit neben mir vergaß und ich sah auch den Hund nicht kommen. Bis ich meine Augen aufriss und er mir knurrend, mit hochgezogenen Lefzen direkt ins Gesicht blickte. Dann begann er zu bellen, doch es war eher ein helles Quietschen als ein tiefes Bellen für einen Hund der aussah wie ein Rottweiler.

      Mich durchfuhr ein grobes Zucken, so dass ich beim abrupten Aufwachen mit dem Kopf gegen die B-Säule krachte und ich mit der rechten Hand unglücklich den Schalthebel traf.

      Ich schlug die Augen auf und sah eine alte Dame mit einem winzigen Hund im Rückspiegel davon gehen. Der kleine Hund kläffte ohne Unterlass und ich konnte nicht fassen, dass ich tatsächlich ein Nickerchen im Auto gemacht hatte. Vermutlich jedoch nicht lange, denn es war erst Mittag.

      Mit schmerzender Hand zerrte ich meine Reisetasche vom Rücksitz , zog wahllos Klamotten heraus und stopfte stattdessen meine wertvolle Fracht hinein. Zu meiner pochenden Hand gesellte sich ein pochender Kopf als ich die Stufen zu meiner WG hoch stieg. Mit etwas Glück war ich alleine dort.

      Nichts hätte ich lieber getan, als mich auf meinem Bett auszubreiten und vielleicht doch noch einen kurzen Moment zu schlafen.

      Noch bevor ich den Schlüssel im Schloss herum gedreht hatte, starb meine Hoffnung von Einsamkeit. Schon im Wohnungsflur konnte ich Stimmen hören.

      Mein Kommilitone und Mitbewohner Thomas stand mit den Händen in die Hüften gestemmt und blickte mich verständnislos an. Unser indischer Mitbewohner Rajan kam mit einer zerbrochenen