Sie fragte sich, wozu das gut sein sollte. Schließlich hatte sie nichts mit dem Dienst an Amun zu tun. Das war männlichen Priestern vorbehalten. Sie war nur eine einfache Dienerin, zuständig für Nahrungszubereitung, Säubern der Unterkünfte und noch einen weiteren Dienst, an den sie jetzt nicht unbedingt denken wollte.
Immerhin hatte bisher noch nie einer der Priester einen derartigen Dienst von ihr verlangt, auch wenn sie bereits sechzehn Sommer erlebt hatte. Lange würde es wohl nicht mehr dauern. Eine Weigerung käme dann nicht in Frage. Ihr Körper gehörte nicht ihr selbst. Sie war Eigentum des Tempels.
Zu ihrem Glück zogen es die meisten Priester vor, enthaltsam zu leben, um ihrem Gott besser dienen zu können. Doch es gab auch andere, die auf fleischliche Genüsse nicht verzichten wollten. Es war nicht verboten, diesen körperlichen Bedürfnissen zu folgen. Nur eine Heirat war nicht gestattet.
Ihr wurde die Aufgabe zugewiesen, die leeren Unterkünfte vorzubereiten. Heute sollten die neuen Anwärter für das Priesteramt eintreffen. Nach langer Zeit des Suchens ohne Erfolg würden heute gleich drei junge Männer jeweils einen Raum bewohnen und im Lauf des Jahres auf ihre Eignung als Priester geprüft werden. Sie wurden jeweils einem älteren, erfahrenen Priester zugeteilt, der die Aufgabe hatte, sie anzuleiten.
Als schließlich am Nachmittag die drei Anwärter im Kreis ihrer Familien eintrafen, war alles bereit, auch ein einfaches Mahl für die Abschiedszeremonie. Nach diesem Mahl verabschiedeten sich die Familien von den jungen Männern, die jetzt zum Tempel gehörten.
Merit wunderte sich, dass es keine Anzeichen für Trauer gab. Man ließ die Anwärter nach einer einfachen Verabschiedung einfach zurück und ging. Schließlich war es eine hohe Ehre, in den Tempel aufgenommen zu werden und Familien, die einen Priester aus ihren Reihen vorweisen konnten, gewannen an Ansehen in der Gesellschaft. Dennoch, ein weiterer Kontakt zu den künftigen Priestern war nicht gestattet und somit waren sie für ihre Familien verloren.
Merit und eine weitere Dienerin, Bessara, räumten die Überreste des Mahls ab. Sie durften davon ihren Hunger stillen. Anschließend mussten sie warten, bis die älteren Priester ihren Schützlingen die Kopfhaare abrasiert hatten. Die Priester nahmen damit ihre Aufgabe als Lehrer an, die Anwärter zeigten, dass sie den Anweisungen der Älteren Folge leisten würden.
Merit beobachtete die jungen Männer während der Zeremonie. Farik, der kleinste der Anwärter, saß mit leuchtenden Augen auf dem Hocker. Er freute sich offensichtlich auf seine kommenden Aufgaben. Er war sehr mager. Merit dachte, man müsste ihm mehr zu essen geben.
Kerlak hatte seine Augenbrauen zusammengezogen und sah mit konzentriertem Blick auf das kleine Feuer in der Schale vor ihm. Es war unmöglich zu deuten, was in seinem Kopf vorging. Seine gedrungene Gestalt wirkte muskulös. Merit empfand Unbehagen, wenn sie ihn ansah. Es schien ihn eine Dunkelheit zu umgeben, die sie bei anderen Menschen bisher nicht wahrgenommen hatte.
Der letzte, Shokar, hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Er war am größten gewachsen von den neuen Schülern. Er ließ die Rasur fast ohne Regung über sich ergehen. Allerdings huschte sein Blick gelegentlich in die Richtung, in die seine Familie verschwunden war.
Merit fühlte sich irgendwie zu ihm hingezogen. Anscheinend war es Shokar doch nicht gleichgültig, dass er seine Familie aufgeben musste. Das machte ihn in Merits Augen menschlicher als die anderen beiden, die wohl schon gänzlich unter dem Bann des Kommenden standen.
Merit und Bessara fegten die Haare zusammen, welche in der Feuerschale verbrannt wurden. Von nun an musste dies immer geschehen. Auch Fingernägel oder Fußnägel wurden so vernichtet. Damit sollte verhindert werden, dass jemand sich diese persönlichen Gegenstände zunutze machen konnte, um Macht über die betreffende Person ausüben zu können.
Atun, der Lehrer Shokars, winkte Merit zu sich.
„Du wirst diesem Anwärter dienen und seine Bedürfnisse erfüllen. Dies ist von jetzt an deine Aufgabe.“
Da war sie – die Aufgabe, die sie bisher nicht erfüllen musste. Jetzt wurde sie verlangt! Merit fühlte eine plötzliche Schwäche im Magen und schluckte hastig. Immerhin wurde ihr Shokar zugewiesen, den sie zuvor doch noch als angenehmsten unter den Anwärtern angesehen hatte.
Shokar blickte scheu zu ihr hinüber. Er wusste offenbar nicht, wie weit ihr Dienst gehen sollte. Ein anderer Blick ließ sie erstarren: Kerlak sah hasserfüllt zu ihr hin. Nein, Hass war wohl nicht das richtige Wort. War es nicht eher Begierde, die seine Augen glühen ließ? Kerlak wusste anscheinend sehr genau, was ein persönlicher Dienst bedeutete. Und er hatte sie für sich haben wollen. Kurz erschien es, als wollte er aufbegehren und Merit für sich beanspruchen, doch ein strenger Blick seines Lehrers Sunit ließ ihn zusammensinken und seinen Mund geschlossen halten.
Sunit befahl Bessara für den Dienst bei Kerlak. Dieser musterte sie gleichgültig und wandte seinen Blick ab. Als Sunit kurz zu Bessara sah, fühlte Merit wieder Kerlaks Blick auf sich gerichtet. Er schien sie zu durchbohren, als wollte Kerlak sagen: „Vergiss nicht, dass du eine Dienerin bist! Du wirst auch mir dienen, wenn ich es will!“
Julak, Fariks Lehrer, wies ihm Noala, eine weitere Dienerin zu. Sie war gerade eingetroffen. Weil sie krank gewesen war, hatte sie heute noch keinen Dienst gehabt. Atun wandte sich an die drei Anwärter:
„Ihr habt jeder eine persönliche Dienerin zugewiesen bekommen. Sie bringt euch Nahrung, kümmert sich um eure Kleidung und hält euren Raum sauber. Wir wissen, dass junge Männer Bedürfnisse haben. Die Dienerinnen werden diese Bedürfnisse in eurem Bett stillen. Lasst aber nicht zu, dass diese Bedürfnisse euch beherrschen. Stillt euren Hunger, aber verliebt euch nicht. Dies ist eure erste Aufgabe. Behaltet die Kontrolle und gestattet nicht, dass Gefühle euren Willen übernehmen. Begebt euch jetzt in eure Räume und weist eure Dienerinnen ein.“
Shokar wandte sich um und Merit führte ihn zu seinem Raum, den sie während des Tages sorgfältig vorbereitet hatte, nicht ahnend, dass von nun an weitere Pflichten hier auf sie warten würden.
Sie blieb an der Tür stehen und wartete auf Anweisungen. Shokar drehte sich zu ihr um. Er wirkte verlegen und schien nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte.
Fast konnte er einem leidtun, also beschloss Merit, ihm zu helfen. „Möchtet Ihr etwas zu trinken oder soll ich Euch ein Bad bereiten, Herr?“
„Bring mir bitte einen Becher kühles Wasser, Merit.“
Merit warf ihm einen erstaunten Blick zu. Die älteren Priester hatten sich bisher nicht die Mühe gemacht, bitte zu sagen. Stets hieß es nur: „Bring mir dies, tu das, beeil dich!“ Bei Befehlen war Eile anscheinend gestattet. Außerdem hatte Shokar sie beim Namen genannt, eine weitere Höflichkeit, die ihr bisher nicht zuteil geworden war. Sie beeilte sich, das Gewünschte zu bringen.
„Habt Ihr noch weitere Wünsche, Herr?“
„Nein, das ist für heute alles. Du kannst gehen. Komm morgen rechtzeitig für mein Morgenmahl. Weißt du, wann du es bringen musst? Mir wurde noch nicht mitgeteilt, wann mein Unterricht morgen beginnt.“
Merit nickte. „Ich werde rechtzeitig da sein. Seid Ihr sicher, dass Ihr nichts mehr braucht?“
„Es ist gut. Geh jetzt!“ Der etwas harsche Ton wurde durch einen Gute-Nacht-Gruß abgemildert. Merit nahm ihm diesen Ton nicht übel. Er begann jetzt wahrscheinlich, seine Familie zu vermissen.
Sie verließ Shokar, um sich in ihre Unterkunft zu begeben. Es hatte sich bis jetzt nicht viel an ihrem bisherigen Leben verändert. Shokar wollte offenbar nicht, dass sie bei ihm lag. Obwohl sie vor dieser einen Aufgabe bisher immer Angst gehabt hatte, schlich sich auf einmal der Gedanke ein, ob sie wohl so unansehnlich war, dass Shokar kein Interesse an ihr hatte.
Er selbst sah in ihren Augen ziemlich stattlich aus. Er war groß gewachsen, mit schlanken Gliedern und einer natürlich aufrechten Haltung. Seine Gesichtszüge wirkten edel. Seine braunen Augen sahen warm und freundlich aus. Auch durch den Verlust seiner Haare hatte er nichts von seinem ansprechenden Aussehen verloren. Im Gegenteil,