Der Kurs dauerte jeden Tag zwischen drei und fünf Stunden; der Plastilin-Zahn verschlang drei Kurstage, und bei der Abgabe – in der Schlange vor dem gestrengen Oberarzt Dr. Lehrmann wurden die Objekte mit feuchten Händen gedreht und gewendet und verglichen. Immer wieder gab der Leiter der Vorklinik ein missratenes Monster wortlos und kopfschüttelnd zurück, nicht ohne es vorher zu einer handlichen Kugel zusammen gepresst zu haben: „Bitte nochmal!“ sollte das wohl heißen.
Beim zweiten Versuch wurde Brittas Ding akzeptiert und als nächstes ein ähnliches Teil verlangt, diesmal aus einem Gipsblock geschnitzt, was sich als um einiges schwerer erwies. Nachdem alle Grübchen und Rillen eingearbeitet waren, kam der Feinschliff mit Schmirgelpapier und Nagelfeile und das Zuschwemmen zutage getretener Poren mit Gipsbrei, was die Oberfläche zwar glatter aber nicht gerade schöner machte.
Manchmal beneidete sie jetzt die Klassenkameraden ihrer frühen Schulzeit am Gymnasium, die ab der Quarta „werken“ durften, während die Mädchen wie selbstverständlich „Handarbeitsunterricht“ bekommen hatten; sie hatte das Stricken und Häkeln immer gehasst.
Bald wurde es aber in der Vorklinik interessanter: Die original grünen Zahntechnik-Modellierwachsstangen wurden ausgepackt, und auf vorbereitete Gipsmodelle eines Normgebisses in natürlicher Größe mussten Backenzahn- Kauflächen gestaltet werden. Mit Wachsmesserchen, die über Bunsenbrennner-Flammen gefährlich heiß gemacht wurden, musste nun aufgeschichtet, geformt und geschabt werden. Schließlich wurde – nach Erlangung des „Vortestats“ für die Modellation – das Ganze vom Gipskiefer abgehoben und mittels quarzhaltiger feuerfester Massen zum Guss in eine „Muffel“ eingebettet.
Spätestens als Britta in die Handhabung der großen horizontalen Federschleudern eingeführt wurde, war ihr wieder mal klar geworden: sie würde Hilfe brauchen…
Die Kommilitonen halfen sich natürlich ohnehin gegenseitig: Zu zweit standen sie ziemlich ratlos an der großen, stahlblechbewehrten, waagerechten Rundschleuder, eine holte zitternd die glühend heiße Muffel aus dem 900-Grad-„Vorwärmofen“, während der Partner die Plättchen mit goldimitierendem „Phantommetall“ im Gusstiegel mit dem Schweißbrenner auf gut 1000 Grad erhitzte. Dann musste es ganz schnell gehen: Muffel platzieren, etwas Schmelzpulver zugeben und weiterfeuern, bis die Masse rötlich-gold spiegelte, die zuvor aufgedrehte Federspannung mechanisch auslösen und schnellstens die Köpfe einziehen.
„Heute muss die Glocke werden…“ zitierten manche Scherzbolde Friedrich Schillers Gedichtklassiker. Wenn aber die glühende Muffel sich wider Erwarten aus der Mulde befreit hatte und geschossartig durch die Gussnische des Labors flog und zu Boden krachte, war den beiden „frischen Gesellen“ nicht mehr zum Lachen zumute.
Britta ahnte, dass sie bis zum Abschluss dieses Studiums noch viele Güsse zu absolvieren hätte und sann auf kompetentere Hilfe als die von ihrem freundlichen aber ebenso ungeschickten Nebenmenschen.
Sie fand sie in Karlheinz, einem nicht besonders attraktiven Pickelgesicht zwei Laborreihen weiter. Er hatte kein ganz so gutes Abitur gebaut, dafür aber schon drei Jahre Zahntechnikerlehre hinter sich und den Gesellenbrief in der Tasche.
Die zielstrebige Britta schenkte ihm ihren schönen Augenaufschlag und bat um Hilfe beim nächsten Guss. Er wurde natürlich ständig angefragt, aber da sie zur Mittagszeit verstohlen ihre Hand in die seine gleiten ließ, als sie nebeneinander zur Mensa schlenderten, war´s um ihn geschehen, und sie wurden ein „eingeschweißtes“ Team, das mindestens bis zum Physikum zusammenhalten sollte. Keine Frage, dass der gutmütige Karlheinz neben den Metallgüssen auch die ein oder andere weitere Laborarbeit für die hübsche Freundin übernahm und ihr bei Modellation, Politur und Prothesenaufstellung nach Kräften zur Hand ging.
Sie atmete tief durch und fand endlich wieder mehr Zeit für ihren mittlerweile 9-jährigen Hannoveraner, dessen Gesellschaft sie der von Karlheinz dann doch eindeutig vorzog.
Nach dem 4. Semester gab es noch den sommerlichen Ferienkurs im Labor, der mit Karlheinz´ Hilfe und zunehmender eigener Erfahrung ohne Probleme zu absolvieren war und sogar noch etwas Zeit fürs Segeln auf der Außenalster ließ. Das war Karheinz´ Leidenschaft, und Britta musste einige Male mit, um ihn sich für das Physikum warm zu halten, das ja auch einen praktischen Teil beinhalten würde.
Das 5. Semester wurde wieder anstrengend, denn neben der unvermeidlichen Büffelei für die Prüfungen in Anatomie, Physiologie und Biochemie stand auch der intensive Blockkurs in Anatomie auf dem Programm, vor dem ihr schon lange gegraust hatte.
Obwohl der kursleitende Professor seinen dicken Oberpräparator mit einem großen Lob vorstellte, hätte dieser doch erst vor Kurzem ein neues Mittel erfunden, das anstelle des altbekannt stinkenden Formalins in die Adern der blutleeren Leichen gepumpt würde, empfing die Studenten am Eingang zum Kurssaal doch ein beißender Geruch, der die Augen tränen ließ.
An Brittas ausgemergelter Männerleiche sollten vier Zahnmediziner an Kopf und Hals und vier angehende Ärzte am Rest des Körpers arbeiten. Dankbar nahmen sie zur Kenntnis, dass hier wenig blasiges Fett abgeschabt werden musste, nachdem die Haut abpräpariert war.
Unter dem flachen Platysma wurde der stärkere Musculus sterno-cleido-mastoideus freigelegt und von Ursprung bis Ansatz dargestellt. Schließlich kam in der Tiefe das Zungenbein zum Vorschein und die davon abgehenden Muskeln, deren obere Teile den Mundboden unterfütterten.
Auf einmal wurden die Zusammenhänge plastisch und klar, ganz anders als im trockenen Lehrbuch. Britta vergaß bald ihren anfänglichen Ekel und war jetzt mit Feuereifer bei der Sache. Zum nächsten Mal hatte sie ein Referat über den Kehldeckel und seine Funktion beim Schluckakt vorzubereiten und zeigte ehrliches Interesse an dem „spannenden“ Thema.
Immerhin wurde jetzt zunehmend klar, dass die Zähne in einem ganzen Menschen steckten.
Von Kurstag zu Kurstag hatten die Präparatoren die Leiche anders vorbereitet, später auch gewendet, um an Nackenwirbel, Rippen und Nieren heranzukommen. Es dauerte einige Zeit, bis sich die gestaute Flüssigkeit der Schwerkraft folgend neu verteilte.
Am Schluss waren die Leichen abgeräumt, auf jedem Tisch lag nur noch ein blankes Gehirn, das die kunstfertigen Fachleute aus der aufgesägten Kalotte entnommen hatten.
Auch diese Strukturen, denen man ihre Funktion ja gar nicht ansehen konnte, faszinierten Britta: Graue und weiße Substanz, Gyri prae- und postcentralis, Corpus callosum, Fornix, Cerebellum und Medulla oblongata, das verlängerte Rückenmark.
Der Mensch war ein Wunderwerk, das war neben allem Faktenlernen eine Erkenntnis, die Britta im Alltagsleben oft allzu schnell wieder vergaß.
Das Physikum jedenfalls bestand sie mit „gut“ und als auch der praktische Zahntechnik-Teil bewältigt war, fand sie es höchste Zeit, dem hilfreichen, aber ziemlich uninteressant gewordenen Karlheinz adieu zu sagen und ihre Fühler nach Süden auszustrecken: Der Wallach in ihrem Reitstall wurde erst einmal kostenneutral an eine ambitionierte Nachwuchsamazone verliehen; den klinischen Teil des Studiums gedachte sie in Tübingen zu absolvieren.
Lächelnd und auch ein bisschen stolz betrat Britta den Behandlungsraum ihrer eigenen Praxis: Es war Donnerstag früh, im Bestellbuch standen heute zwölf Patienten. Drei von ihnen saßen bereits im hübsch dekorierten Wartezimmer: Zwei von waren zur Halbjahres-Kontrolle einbestellt, ein dritter hatte sich mit Schmerzen eingefunden und wollte einen „gelben Schein“ zwecks Krankmeldung.
Routiniert empfing sie den ersten, schaute kurz in den Mund und beauftragte ihre Helferin, ein Röntgen-Panorama anzufertigen. Dann widmete sie sich im zweiten Sprechzimmer dem Schmerzpatienten. Hier hatten sie die nicht ganz so komfortable Behandlungsliege aufstellen lassen – in Leichtbauweise und zum abgespeckten Preis. Herrn Ludwigs Figur war allerdings eher „angespeckt“, und sie hatte etwas Mühe, die rechte Armlehne neben seinem schweren Leib herunterzuklappen.
„Schweinerei“, jammerte Herr Ludwig, „meine rechte Backe is´ ganz dick gewor´n.“
„Schweinebacke“,