Jetzt waren es nur noch 200 Straßenkilometer bis zur Saltstraumen-Brücke, die sich auf 40 Meter Höhe fast einen Kilometer lang über den Gezeitenstrom schwingt.
Der freundliche Wohnmobilfahrer und seine Frau griffen die beiden direkt am Polarkreis auf und luden sie ein, mit ihnen dort hinzufahren. Am Saltstraumen-Camping, wo das Ehepaar sein Mobil aufbockte, gab es tatsächlich noch ein paar günstige Hytten zu mieten und Grillmöglichkeiten genug für die Gäste.
Die meisten zogen hier so viel Fisch aus dem Strom, dass sie die Hälfte verschenken konnten; Maria und Herbert, die keine Tiere töten konnten, aber mit dem Essen toter Exemplare merkwürdigerweise keine Probleme hatten, würden hier also nicht verhungern.
Aber jetzt musste Herbert auch unbedingt den Malstrøm mit eigenen Augen und Ohren erleben, nicht nur wegen der Gruselgeschichten eines Edgar Allen Poe, sondern auch, weil er für seine zierliche Begleiterin eine gewisse Bedeutung zu haben schien…
Zwei Tage später erreichten sie Bodø, und Maria konnte endlich ihren altgewordenen Vater in die Arme schließen.
5. Die Zahnarztpraxis - 1992 / 1993
Der Mai 1992 brachte Bilderbuchwetter in ganz Norddeutschland.
Herbert Möller begann gerade sein Leben zu genießen: Er hatte sich für seinen ersten Ostseesommer kürzlich ein gebrauchtes Golf-Cabrio geleistet und fuhr an der Kieler Förde entlang auf der Landstraße in Richtung Eckernförde. Rechts und links blühende – und intensiv duftende – Rapsfelder, im Hintergrund blitzten immer wieder weiße Segel und Flecken blauen Meeres auf. Herbert hatte den rechten Arm lässig auf die Lehne des Beifahrersitzes gelegt, auf dem seine Freundin Britta sich den Wind um die Nase wehen ließ. Britta war eine hanseatische Schönheit mit schulterlangen, blonden Haaren, über die sie jetzt ein bunt getupftes Kopftuch gebunden hatte. Hinter ihrer übergroßen, stylischen Sonnenbrille hatte sie die Augen geschlossen und summte vor sich hin: „Knock-knock-knockin´ on heaven´s door…“, den alten Bob Dylan- Song, den die Guns N´Roses neu gecovert hatten und der gerade die Charts stürmte. Sie machte sich keine weiteren Gedanken zum Text des Songs, nur, dass es sich für sie himmlisch anfühlte, hier durch die duftende Mailuft und diese Traumlandschaft rauschen zu dürfen.
Die beiden kannten sich schon vier Jahre. Sie hatten 1990 zusammen ein gutes Examen in Tübingen hingelegt, wo Herbert auch sein Zahnmedizin- Studium begonnen hatte. Britta hatte in ihrer Heimatstadt Hamburg angefangen zu studieren, es aber richtig gefunden, die Uni einmal zu wechseln, da bot sich das idyllische Tübingen an für die letzten zweieinhalb Jahre, mal ganz was anderes…
In Höhe „Schwedeneck“ verlangsamte Herbert die Fahrt, und der Rapsgeruch intensivierte sich. Er bog ab nach Surendorf und steuerte den großen Strandparkplatz an. Es war zwar noch lange keine Ferienzeit, aber durch die frühe Wärme in diesem Mai wurde der Strand unterhalb des Campingplatzes zumindest am Wochenende schon gut besucht. Oben, vom Kurtax-Kassenhäuschen aus, hatte man einen herrlichen Blick bis weit über die Eckernförder Bucht, und die Nachmittagssonne blendete etwas und glitzerte in den Wellen. In einem Szene-Heftchen, das in allen Kieler Studentenkneipen auslag, hatten sie gelesen, dass hier eine Surf-Schule mit Board- Verleih betrieben wurde. Und tatsächlich – dort war geöffnet.
Herbert hatte Badehose, seinen surftauglichen „Longjohn“-Anzug und Surfschuhe dabei, Britta wollte erstmal gucken, wie´s läuft…
„Erfahrung?“ fragte der eher wortkarge Vermieter. „Jahrelang …, nullo problemo“ antwortete Herbert. Schließlich hatte er es vor Jahren schon auf dem heimatlichen Maschsee versucht und später auf dem Kirchentellinsfurter Baggersee in der Nähe von Tübingen.
„Na gut“ brummte der Wortkarge, „Stunde 20 Mark“. Er hatte Herbert einen kurzen „Glider“ empfohlen und auf die Frage, wie denn das Schwert runterzulassen wäre, nur mit den Achseln gezuckt: „Gibt´s hier nich´, geht von selbst…“
Das Board auf dem Baggersee war ein schwerer alter „Verdränger“ gewesen, mit halblangem Schwert, das den Kurs stabilisierte; aber dieses hier war so viel leichter und schien einfacher zu sein in der Handhabung. Ein leichter Schönwetter-Ostwind blies fast parallel zur Küste, da könnte er glatt Eckernförde erreichen.
Die anfänglichen Wackler waren schnell ausbalanciert, und das bekannte Gefühl stellte sich wieder ein, als Herbert den Segeldruck des Riggs auf das jetzt stabiler liegende Board übertrug und sein Körper Teil des Sportgeräts wurde – mit Wasser, Wellen und Wind in vollkommenem Einklang. Er schloss die Augen und genoss es. Er war 32 Jahre jung, joggte dreimal die Woche durch den Kieler Schrevenpark und war mit seiner Kraft und Fitness ganz zufrieden.
Britta hatte sich einen Strandkorb genommen und döste in der schon sommerlich warmen Frühlingssonne. Sie freute sich, dass Herbert seinen Spaß zu haben schien und offenbar gut zurechtkam. Dann war sie eingenickt und erwachte erst, als es merklich kühler geworden war und der Wind auffrischte, hatte er nicht auch die Richtung gewechselt? Auch die Sicht war jetzt schlechter und Nebelschwaden zogen übers nun rauere Wasser. Herbert war nirgends zu entdecken. Es mochte eine Dreiviertelstunde vergangen sein, und sie rannte zur Surfschule und suchte nach dem Vermieter.
„Vadder is grad mit dem Boot raus“ rief ihr der etwa 10-jährige entgegen, der die Bude bewachte, „da hat sich wieder so´n Touri überschätzt, wenn er in 15 Minuten nicht zurück is, soll ich die Seenotrettung anrufen.“
Der Junge schien unaufgeregt, er kannte solche Sachen. Britta dagegen fühlte, wie ihr der Angstschweiß ausbrach: „Was, wenn sie allein zurückblieb, was wäre mit der Praxis – und den Schulden?“
Dann hörte sie das Tuckern eines alten Motorboots, dessen Konturen sich langsam aus dem Nebel schälten. Im Schlepptau schwamm das Surfbrett, auf dem sich ein erschöpfter Herbert festkrallte. Das Rigg hatte der Skipper auseinander gebaut, um den Widerstand von Wind und Wasser zu reduzieren. Er fluchte, schien aber doch zufrieden: „Hundert Mark“, brummte er, als Boot und Board samt Besatzung wieder an den Strand gezogen waren, „so´n Einsatz der Walter Rose von Schilksee wech wär´n beeten dürer worn for em…“
Die „Walter Rose“ war das nächstgelegene SAR-Schiff der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“. „Save and rescue“ hatte aber ja gerade noch mit Bordmitteln geklappt…
Herbert hatte offensichtlich seine Kräfte überschätzt, zahlte zähneknirschend und wickelte sich in Handtücher und Stranddecken, um den Körper aufzuwärmen und sein angeknackstes Selbstbewusstsein zu pflegen.
Dies war nicht der schwäbische Baggersee, und technisch hatte er bei den modernen Brettern wohl auch Nachschulungsbedarf.
Auf dem Parkplatz klappten die beiden das Verdeck des Cabrios herunter und fuhren betreten zurück nach Kiel in ihre frisch angemietete Wohnung. Hoffentlich war das alles kein schlechtes Omen für ihren Praxis-Start …
Seit Anfang März wohnten Britta und Herbert jetzt in Kiel. Es war ihre erste gemeinsame Wohnung, und sie hatten sich darauf gefreut, sie gemeinsam zu gestalten. Sie befand sich in einem nüchternen Mietsblock der Nachkriegszeit – Kiel war im letzten Krieg besonders stark zerstört gewesen -, war aber im begehrten Viertel rund um den Blücherplatz gelegen, wo zweimal wöchentlich buntes Markttreiben stattfand und es immer mal wieder Stadtteilfeste gab.
Besonders im Sommerhalbjahr traf man „auf dem Kiez“ ein gemischtes Publikum aus Gutsituierten, Studenten und Alternativen.
Hier gab es noch bürgerliche Geschäfte, Restaurants und Handwerksbetriebe in Familienbesitz. Aber auch immer mehr alternative Kinderläden, Fahrradshops, Buchhandlungen und ökologische Hofläden schossen wie Pilze aus dem Boden.
In ihrer Assistentenzeit hatten die beiden getrennt und möbliert gewohnt, und auch als sie ihre paar Einrichtungsgegenstände zusammenschmissen, fehlte immer noch viel am eigenen Hausstand. Dafür gab es in Hamburg das