Britta allerdings war der dunkelhaarige athletische Herbert durchaus schon im Semester aufgefallen, nicht weil er herausragend gut aussah oder etwa ein charmanter „womanizer“ gewesen wäre, ganz im Gegenteil, er schien ihr aber freundlich zu sein und mit einer Geschicklichkeit begabt, die lange nicht jeder Zahnmedizinstudent besaß und die aus ihm bestimmt mal einen guten Zahnarzt werden lassen würde.
Er stand auf und lud sie auf ein Vanilleeis in der Freibadbar ein, was sie jetzt gar nicht mal so uncharmant fand, und dankbar annahm…
Britta kannte ihre Wirkung auf junge Männer nur zu gut, und gerade im Freibad konnte auch der lustloseste kaum ihren Reizen widerstehen und so hatte sie Herbert schnell um den kleinen Finger gewickelt, als das Thema auf die lästige Arbeit im Phantomkurs kam. Sie hätte ja mitbekommen, dass ihm sein Platzpartner abhandengekommen sei, und es wäre doch nett, wenn sie zusammen ein Team werden könnten. Herbert stimmte begeistert zu, ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, dass da vielleicht Brittas bisheriger Partner auf der Strecke bleiben würde. Den eitlen Oberarzt vom Platztausch zu überzeugen, fiel Britta nicht schwer, sie musste nicht einmal auf die zurechtgelegte Begründung zurückgreifen, dass sie die Zugluft am bisherigen Arbeitsplatz nicht vertragen könne.
Mit Herberts Hilfe bekam auch sie vier Wochen vor Semesterende ihren Phantomkursschein, und sie konnten in vollen Zügen das Freibadwetter und ihre aufkeimende Liebe genießen…
In den Ferien allerdings wollte sie mit den Eltern eine Kreuzfahrt unternehmen und sich dann in Hamburg wieder intensiver dem Rappen widmen.
Im Oktober würde es endlich an die Patienten gehen, gut dass sie einen geschickten Partner hatte…
Im 1. Kurs der konservierenden Zahnheilkunde dauerte eine Füllung furchtbar lange. Auf jeder Seite des Kurssaals gab es circa zehn Behandlungseinheiten in Reihe mit halbhohen Zwischenwänden, auf denen gelbe Lämpchen installiert waren. Das war das Rufzeichen für den Assistenten und wurde anfangs gleich zuhauf angeknipst, weil er die erste Anästhesie geben sollte, damit die Studenten loslegen konnten. Das konnte dauern. Wenn die Spritze wirkte, ging die Lampe wieder an, weil ein Assi den betreffenden Zahn mit der Turbine aufziehen musste. Das durften sie selbst erst nach einem entsprechenden Testat…
Dann erst fing man an zu „bohren“. Mit langsam laufendem Rosenbohrer ging es der Karies zuleibe. Immerhin waren die altertümlichen „Doriot-Gestänge“ vor kurzem durch moderne „Mikromotoren“ ersetzt worden.
Dann wieder: Lämpchen an! und zehn Minuten auf den Assi warten, der das Testat „Karies entfernt“ im Kursheft abzeichnen sollte, aber natürlich noch eine versteckte braune Stelle erspähte und „weiterbohren!“ befahl.
Die Zweierteams wechselten an jedem Kurstag die Rollen: „Behandler“ und „Helferin“.
In den Wartezeiten galt es natürlich, die Patienten bei Laune zu halten oder deren schwäbische Geschichten mit schrecklichen Zahnarzterfahrungen anzuhören. Wenn das Loch endlich als sauber beurteilt wurde, durfte die Unterfüllung mit Phosphatzement gelegt werden, den „die Helferin“ auf kühler Glasplatte angespachtelt hatte, während die angehende Zahnärztin mit pausenlosem Watterollenwechsel beschäftigt war. – Wieder Testat und anschließendes Abdecken der Kavität mit warm-plastischer Guttapercha: „Vorsicht, nicht den Mund mit heißem Heidemannspatel verbrühen!“
Nach zwei Stunden Kurszeit den Termin für nächste Woche vergeben; ob die Patienten wohl wiederkämen? Wenn nicht, wären die nächsten zwei Stunden verplempert, es sei denn, ein Assistent würde ihnen einen neuen „Schmerzpatienten“ weiterleiten.
Säumige rief man schweren Herzens an oder klingelte sogar an ihrer Haustür, um sie mit Engelszungen zum Durchhalten zu bewegen, schließlich ginge es ja um ihre Zähne, deren Prognose ansonsten fraglich wäre.
In Wirklichkeit fürchtete natürlich jeder eher eine „infauste“ Prognose für den Kons1-Schein der Zahnerhaltungskunde, denn ohne Endtestat des Oberarztes über die fertiggestellte und polierte Füllung würden die Vortestate wenig nützen…
Wenn´s aber gut lief, wurde der Zahn beim nächsten Mal mit Kohlensäureschnee als „vital“ getestet, die Guttapercha rausgebrokelt und eine tofflemire Matritze angeschlungen.
Auch deren perfekter Sitz, gegebenenfalls mit Holzkeilchen optimiert, musste testiert werden. Dann wurden drei Portionen Silber-Amalgam angerüttelt und das „Schneeballknirschen“ desselben geprüft. Die „Helferin“ stukte es in die „Amalgampistole“, und der oder die Behandler(in) zirkelte die graue Masse Portion für Portion in die Kavität und „kondensierte“ immer wieder mittels Kugelstopfer.
Zwischendurch: pausenloses Wechseln der – besonders von ängstlichen Patienten ständig durchgespeichelten - Watteröllchen.
Wenn alles gut ging und die dreiflächige Füllung nicht beim ersten, „vo-o-orsichtigen“ Zubeißen des Patienten zerbrach, folgten endlose Okklusionskontrollen mit blauem Färbefilz und das modellierende Ausarbeiten, „carving“ genannt.
„Eine Stunde gar nicht draufbeißen und einen ganzen Tag nur sehr behutsam“ wurde angeordnet und dem Patienten die absolute Notwendigkeit der Politur in den nächsten Tagen eingeschärft.
Komplizierter wurde es noch, wenn die bisher noch easy ausführbare „Caries profunda“- Behandlung nach Abtragen der letzten dünnen Kariesscholle ein Blutströpfchen erkennen ließ: Die Pulpa war „geknackt“, und obligatorisch musste die gefürchtete, steril gehaltene „Endodontiebox“ ausgepackt werden. Hektisch wurden auch Röntgenbilder herausgesucht oder neu angefertigt und mit zitternder Hand die Anästhesie aufgestockt. Manchmal kam jetzt allerdings stattdessen wegen Zeitmangels die bewährte Cortisonpaste „Ledermix“ zur Anwendung und wurde auf die unheimlich tiefe Stelle im Abgrund der Kavität gegeben, mit Watte abgedeckt und schnell mit Cavit zugeschmiert.
Ob jetzt der Patient wiederkäme, stand wirklich in den Sternen: Schließlich folgte eine verzögert einsetzende Schmerzentwicklung einer statistischen Wahrscheinlichkeit…
Eine Wurzelbehandlung war jetzt unerlässlich und erforderte die „absolute Trockenlegung“ unter Kofferdam. Mit diesem rigiden Spanngummi stand fast jeder Student (und Zahnarzt) auf dem Kriegsfuß. Allzu leicht machte man einen Fehler beim Ausstanzen des Löchleins, durch das der Zahn gesteckt werden sollte oder beim Überstreifen der womöglich abspringenden Kofferdamklammer. Das übersichtliche Eröffnen der Pulpenkammer und besonders das Aufbereiten der Wurzelkanäle war selbst für den versierten Praktiker immer wieder eine Herausforderung, für den Anfänger fast unmöglich. Immer wieder kam es zu Brüchen der Kanalinstrumente und zum betretenen Abgeben des Patienten an einen manchmal auch überforderten Assistenten, der einen „zum Dank“ womöglich beim Professor anschwärzte.
Es gab aber natürlich auch freundliche und zugewandte Assis, die mit langer Mähne wie ein Kommilitone auftraten und sich studentisches Mitgefühl bewahrt hatten.
Ein Semesterkollege berichtete, er sei für 2,50 Mark zum Haareschneiden im „Studentenkurs“ der Frisörlehrlinge gewesen. Die beiden gingen bei nächster Gelegenheit hin und feixten wegen der offensichtlichen Ähnlichkeit des Ambientes, wo die Jungen ihr Glück an Freiwilligen versuchen mussten und von ihren Handwerks-Assistenten kontrolliert bis schikaniert wurden.
Schikanös fanden manche auch die ersten Kurse in der Kieferorthopädie, wo die einzige Professorin der Zahnklinik präsidierte.
Sie ließ die Kandidaten verschiedenartig mäandrierende Schlangen aus federhartem Stahldraht biegen und prüfte die 30 cm langen Gebilde mit spitzem Zeigefinger, ob sie auf Druck ruhig auf dem Tisch liegen blieben: Falls nicht, durften sie umgehend wiederholt werden; sie knipste sie durch mit der Schneidezange und wischte sie in den Müll – was wenigstens zwei bis drei Stunden Mehrarbeit bedeutete.
7.