Siebentes Kapitel
Die Schule fing am nächsten Morgen allen Ernstes an. Es machte einen tiefen Eindruck auf mich, wie der laute Lärm in der Klasse plötzlich zur Totenstille wurde, als Mr. Creakle nach dem Frühstück eintrat, in der Türe stehen blieb und sich umsah, wie der Riese im Märchenbuch, wenn er seine Gefangenen betrachtet.
Tongay stand dicht neben Mr. Creakle. Ich dachte mir, er hat doch gar keine Ursache, so grimmig »Ruhe« zu rufen. Alle Schüler saßen sowieso stumm und regungslos da.
Jetzt sah man Mr. Creakle sprechen, und Tongay wiederholte laut seine Worte.
»Also, ihr Jungen, es ist ein neues Semester angegangen. Nehmt euch in acht in diesem neuen Semester. Seid bei der Hand bei euern Aufgaben, rate ich euch, denn ich werde rasch bei der Hand mit den Strafen sein. Ich werde nicht nachgeben. Es wird euch nichts nützen, wenn ihr euch reibt. Ihr werdet die Striemen nicht wegreiben, die ich euch versetzen werde. Jetzt macht euch an die Arbeit, jeder einzelne.«
Als diese schreckliche Eingangsrede vorüber und Tongay wieder hinausgehumpelt war, kam Mr. Creakle an meine Bank und sagte mir, daß, wenn ich auch gut beißen könnte, er darin noch viel berühmter sei. Er zeigte mir dabei das spanische Rohr und fragte mich, was das wohl für ein Zahn wäre. »Ist es ein scharfer Zahn, he? Ist es ein Doppelzahn, he? Hat er eine gute Schneide, he? Beißt er, he? Beißt er wirklich?« Bei jeder dieser Fragen versetzte er mir einen Hieb, daß ich mich wand und bald in Salemhaus mündig gesprochen war, wie Steerforth es nannte, und auch sehr bald in Tränen schwamm.
Nicht etwa, daß diese Behandlung eine besondere Auszeichnung bedeutet hätte. Im Gegenteil. Bei der großen Mehrzahl der Knaben, besonders bei den Kleinen, machte sich Mr. Creakle auf dieselbe Art bemerkbar, wenn er die Runde im Zimmer machte.
Die halbe Klasse weinte und krümmte sich vor Schmerzen, ehe das Tagewerk begann. Wieviel Unglückliche noch dazu kamen, bevor die Stunde zu Ende ging, getraue ich mich gar nicht anzugeben, um nicht der Übertreibung beschuldigt zu werden.
Ich glaube, es kann nie einen Menschen gegeben haben, den sein Beruf mehr freute, als Mr. Creakle. Seine Wonne, die Jungen schlagen zu können, kam der Befriedigung nagenden Hungers gleich. Ich bin fest überzeugt, da er sich pausbäckigen Jungen gegen über nicht halten konnte, daß darin für ihn etwas von starker Anziehungskraft lag und ihm keine Ruhe ließ, bis er nicht den Betreffenden für den Tag gezeichnet hatte. Ich war selbst pausbäckig und muß es wissen. Wenn ich jetzt an diesen Menschen denke, wallt mein Blut, und alles empört mich um so mehr, weil ich jetzt weiß, daß er noch dazu ein unfähiger Schuft war und kein größeres Recht auf den Vertrauensposten, den er bekleidete, hatte, als auf den Posten eines ersten Admirals oder eines Feldmarschalls. Nur hätte er dort wahrscheinlich weniger Unheil angerichtet.
Wie demütig wir elenden kleinen Hasenfüße gegen ihn, diesen erbarmungslosen Götzen, waren! In welchem Licht erscheint mir jetzt dieser Stapellauf ins Leben angesichts solcher Demut und Untertänigkeit vor einem Mann von solchem Unwert!
Hier sitze ich wieder in der Bank und beobachte sein Auge; – voll Unterwürfigkeit beobachte ich ihn, wie er ein Rechenbuch für ein anderes Opfer liniert, das mit dem Lineal eben eins auf die Hand bekommen hat und die Schwiele mit dem Taschentuch reibt. Ich hätte vollauf zu tun. Ich beobachte sein Auge jedoch nicht, weil ich müßig bin, sondern weil es mich unnatürlich anzieht, – mich mit dem schrecklichen Wunsch erfüllt, zu erraten, was er in der nächsten Minute tun wird. Ob er wohl über mich herfallen wird oder über einen andern?
Eine Reihe kleiner Jungen hinter mir beobachtet ihn mit demselben Interesse. Ich glaube, er weiß es und verstellt sich nur. Er schneidet furchtbare Grimassen, während er das Rechenbuch liniert. Und jetzt wirft er einen Seitenblick auf uns, und wir alle lassen den Blick auf die Bücher sinken und fangen an zu zittern. Einen Augenblick später starren wir ihn schon wieder an. Ein Unglücklicher, der seine Aufgabe schlecht gemacht hat, wird herausgerufen. Er stammelt Entschuldigungen und verspricht, es morgen besser zu machen. Mr. Creakle reißt einen Witz, ehe er ihn prügelt, und wir lachen darüber. Wir elenden, kleinen Hunde lachen darüber, mit aschfahlen Gesichtern und Herzen, die uns in die Hosen gefallen sind.
Hier sitze ich wieder in der Bank an einem schläfrigen Sommernachmittag. Ein Surren und Summen rings um mich her, als seien die Jungen lauter große Fliegen. Ein dumpfer Druck lastet nach dem lauen, fetten Mittagessen her auf mir, und mein Kopf ist so schwer wie Blei. Ich würde eine Welt darum geben, wenn ich schlafen dürfte. Mein Auge ist auf Mr. Creakle gerichtet, und ich blinzle ihn an wie eine junge Eule; der Schlaf überwältigt mich eine Minute, er verschwimmt vor meinen Augen, wie er die Rechenhefte liniert – – –; leise schleicht er sich hinter mich, und ich erwache mit einem roten Striemen auf dem Rücken wieder zu klarer Wahrnehmung.
Dann bin ich auf dem Spielplatz, wo mein Auge immer noch von ihm gebannt ist, obgleich ich ihn nicht sehen kann. Das Fenster nicht weit von dem Orte, wo er zu Mittag ißt, vertritt ihn, und ich beobachte es immer an seiner Statt. Wenn sein Gesicht dahinter erscheint, nimmt das meine einen flehentlichen und unterwürfigen Ausdruck an. Wenn er durch die Scheiben heruntersieht, bricht auch der Verwegenste – nur Steerforth ausgenommen – mitten in einem Ruf oder Schrei ab und wird nachdenklich. Einmal wirft Traddles, der größte Pechvogel von der Welt, zufällig das Fenster mit einem Ball ein. Noch jetzt überläuft es mich eiskalt, wie ich es geschehen sehe, und begreife, daß der Ball Mr. Creakles geheiligtes Haupt getroffen hat.
Armer Traddles! In seinem engen, himmelblauen Anzug, der seine Arme und Beine wie Würste oder Teigrollen erscheinen ließ, war er der Lustigste und zugleich Unglücklichste unter den Schülern. Er wurde immer mit dem spanischen Rohr gehauen, ich glaube, jeden Tag im ganzen Semester, mit Ausnahme eines Montags, wo er nur mit dem Lineal eines über beide Hände bekam. Und immer stand er im Begriff, deshalb an seinen Onkel zu schreiben, und immer unterließ er es wieder. Wenn er den Kopf eine Weile auf das Pult gelegt hatte, wurde er wieder lustig, fing an zu lachen und zeichnete auf seine Schiefertafel Gerippe, ehe noch seine Augen ganz trocken waren. Ich konnte mir lange Zeit nicht erklären, welchen Trost Traddles im Zeichnen dieser Gerippe finden mochte, und sah in ihm eine Art Einsiedler, der sich durch solche Symbole der Sterblichkeit vor Augen halten will, daß auch Prügel nicht ewig dauern können. Aber jetzt glaube ich, er zeichnete sie nur, weil sie so leicht waren und er ihnen keine Gesichter zu machen brauchte.
Traddles war sehr ehrenhaft und betrachtete es als eine heilige Pflicht der Schüler, einander beizustehen. Er hatte oft darunter zu leiden und besonders einmal, als Steerforth während des Gottesdienstes gelacht hatte, und der Kirchendiener glaubte, es wäre Traddles gewesen, und diesen hinausführte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, wie er von dem Diener gepackt hinausging, verabscheut von der ganzen Gemeinde. Er verriet nie den eigentlichen Täter, obgleich er den ganzen nächsten Tag dafür büßen mußte und solange eingesperrt war, daß er einen ganzen Kirchhof voll Gerippen in seinem lateinischen Wörterbuch mit herausbrachte.
Dann bekam er aber auch seinen Lohn. Steerforth nämlich sagte, in Traddles sei auch keine Spur von einem Mucker, und wir alle fühlten, daß das das höchste Lob bedeutete, das es geben konnte. Ich für meinen Teil hätte viel erdulden mögen, um solchen Lohn zu verdienen, obgleich ich lange nicht so tapfer war wie Traddles und nicht annähernd so alt.
Steerforth Arm in Arm mit Miß Creakle in die Kirche gehen zu sehen, war für mich ein überwältigender Anblick. Ich konnte Miß Creakle der kleinen Emly hinsichtlich Schönheit nicht an die Seite stellen, – ich liebte sie nicht – ich wagte es nicht –, aber sie erschien mir als eine junge Dame von ungewöhnlichen Reizen und von unübertrefflicher Eleganz. Wenn Steerforth in weißen Hosen ihr den Sonnenschirm trug, war ich stolz, ihn zu kennen, und glaubte, daß sie nicht anders könnte, als ihn von ganzem Herzen anzubeten. Mr. Sharp und Mr. Mell waren wohl in meinen Augen alle beide sehr beachtenswerte Persönlichkeiten, aber gegen Steerforth verbleichten sie wie Sterne gegenüber der Sonne.
Steerforth blieb mein Beschützer und erwies sich mir als ein sehr nützlicher Freund, da niemand einem Knaben, der in seiner Gunst stand, etwas zu tun wagte. Er konnte mich gegen Mr. Creakle nicht schützen, oder wenigstens tat er es nicht, aber wenn mich Mr. Creakle noch härter als gewöhnlich gestraft hatte, sagte er mir stets, es fehlte mir