Noch lange saß ich im Dunkeln da und grübelte, ob sonst noch jemand kommen werde. Als das für diesen Abend unwahrscheinlich wurde, zog ich mich aus und ging zu Bett und fing an, mich furchtsam zu fragen, was jetzt wohl mit mir geschehen würde. War es ein Verbrechen, das ich begangen hatte? Würde man mich verhaften und ins Gefängnis stecken, mich am Ende gar hängen?!
Ich werde nie das Erwachen am nächsten Morgen vergessen: Im ersten Augenblick froh und heiter, war ich plötzlich durch die erwachende Erinnerung wie niedergeschmettert. Miß Murdstone erschien wieder, ehe ich mich erhob, sagte mir mit kurzen Worten, daß ich eine halbe Stunde, aber nicht länger, spazieren gehen dürfte, und verschwand. Sie ließ diesmal die Türe offen, damit ich von der Erlaubnis Gebrauch machen könnte.
Ich tat es und jeden folgenden Morgen meiner Gefangenschaft, die fünf Tage dauerte. Wenn ich meine Mutter allein hätte sehen können, wäre ich vor ihr auf die Kniee gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, aber ich bekam niemand zu Gesicht, außer Miß Murdstone. Eine Ausnahme bildete nur die Zeit des Abendgebetes in der Wohnstube; dorthin führte mich Miß Murdstone, und ich mußte wie ein junger Sträfling an der Tür stehen bleiben, während alle ihre Plätze einnahmen; und ehe sie sich erhoben, führte mich meine Kerkermeisterin mit großer Feierlichkeit wieder ins Gefängnis. Ich bemerkte, daß meine Mutter, am allerweitesten von mir entfernt, ihr Gesicht von mir abgewandt hielt, und daß Mr. Murdstones Hand mit einem großen leinenen Tuch verbunden war.
Wie entsetzlich lang mir diese fünf Tage wurden, kann ich nicht beschreiben. Sie nehmen in meiner Erinnerung den Raum von Jahren ein. Die Spannung, mit der ich allen Vorkommnissen im Hause lauschte, das Klingeln, das Öffnen und Schließen von Türen, das Murmeln von Stimmen, die Schritte auf den Treppen; das Lachen, Pfeifen und Singen draußen, das mir in meiner Einsamkeit und Verstoßenheit furchtbarer erschien, als alles andere, das ungewisse Schleichen der Stunden, besonders des Nachts, wenn ich in dem Glauben aufwachte, es sei schon Morgen, während die Familie noch nicht zu Bett gegangen war und ich noch die ganze lange Nacht vor mir hatte, – die quälenden Träume mit ihrem Alpdrücken, – die Wiederkehr von Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend, wo die Jungen draußen auf dem Kirchhof spielten, und ich sie vom Hintergrund des Zimmers aus beobachtete, weil ich mich schämte, mich wie ein Gefangener am Fenster zu zeigen, – das fremdartige Gefühl, daß ich mich nie sprechen hörte, – die flüchtigen Pausen schnell entschwindender Erleichterung, die mit dem Essen und Trinken kam und wieder ging, der Regen eines Abends mit seinem frischen Duft, wie er immer dichter und dichter wurde zwischen mir und der Kirche, bis er und die hereinbrechende Nacht mich in einer Finsternis von Furcht und Reue zu ersticken drohten, – alles das scheint Jahre statt Tage gedauert zu haben, so lebendig und tief hat es sich mir eingeprägt.
In der letzten Nacht meiner Haft wachte ich auf und hörte meinen Namen flüstern. Ich richtete mich im Bett auf, breitete meine Arme im Dunkeln aus und fragte:
»Bist dus, Peggotty?«
Es kam nicht sogleich eine Antwort. Aber nicht lange darauf hörte ich wieder meinen Namen in einem so geheimnisvollen und schaurigen Ton, daß ich vor Schrecken wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre, hätte ich nicht plötzlich begriffen, daß er durch das Schlüsselloch kommen müsse.
Ich tappte mich zur Tür, legte den Mund an das Schlüsselloch und flüsterte:
»Bist dus, liebe Peggotty?«
»Ja, mein einziger lieber Davy. Sei so leise wie eine Maus, sonst hört uns die Katze.«
Ich verstand sogleich, daß Miß Murdstone gemeint war, und fühlte die Notwendigkeit der Vorsicht, denn ihr Zimmer stieß dicht an meines.
»Was macht Mama, liebe Peggotty? Ist sie sehr böse auf mich?«
Ich konnte hören, daß Peggotty leise vor der Tür weinte, – wie ich, – ehe sie antworten konnte:
»Nein, nicht sehr.«
»Was wird mit mir geschehen, liebe Peggotty? Weißt du es?«
»Schule. Bei London,« war Peggottys Antwort. Sie mußte es noch einmal wiederholen, denn sie hatte es das erstemal in meinen Hals hineingesprochen, weil ich vergaß, den Mund vom Schlüsselloch wegzunehmen und das Ohr daranzulegen. Ihre Worte kitzelten mich sehr, aber verstehen konnte ich sie nicht.
»Wann? Peggotty.«
»Morgen.«
»Hat deshalb Miß Murdstone meine Kleider aus der Kommode genommen?«
»Ja,« sagte Peggotty. »Koffer.«
»Werde ich Mama nicht mehr wiedersehen?«
»Ja,« sagte Peggotty. »Morgen früh.« Dann legte sie ihre Lippen dicht an das Schloß und sprach die folgenden Worte so gefühlvoll und innig, wie sie wohl nie durch ein Schlüsselloch mitgeteilt worden sind, und stieß jeden Satz abgebrochen mit einem krampfhaften kleinen Ruck hervor:
»Lieber Davy, – wenn ich jetzt nicht ganz so herzlich – mit dir bin, wie früher, – so ists nicht, weil ich dich nicht – sehr und noch mehr liebe, mein liebes Herzenspüppchen, – sondern bloß weil ich glaube, es ist besser für dich – und für jemand anders. Davy, mein Liebling, hörst du mich? Kannst du hören?«
»Ja–a–a–a, Peggotty,« schluchzte ich.
»Du mein Herzenskind,« flüsterte Peggotty mit unendlichem Mitleid. »Ich will dir nur sagen, du darfst mich niemals vergessen. Auch ich will dich niemals vergessen. Und ich will deine Mama, Davy, so in acht nehmen, wie ich dich in acht genommen habe. Und ich werde sie nie verlassen. Der Tag wird noch kommen, wo sie gern ihren armen Kopf ihrer dummen, mürrischen, alten Peggotty wieder auf den Arm legen wird. Ich werde dir schreiben, mein Liebling. Wenn ich auch kein Gelehrter bin, und ich will – ich will –« Peggotty fing an, das Schlüsselloch zu küssen, da sie mich nicht küssen konnte.
»Ich danke dir, meine liebe Peggotty,« sagte ich. »Ich danke, danke dir. Willst du mir nur eins versprechen, Peggotty? Wirst du Mr. Peggotty und der kleinen Emly und Mrs. Gummidge und Ham sagen, daß ich nicht so schlecht bin, wie sie vielleicht denken, und daß ich sie alle von Herzen grüßen lasse, besonders die kleine Emly? Willst du so gut sein, Peggotty?«
Die gute Seele versprach mirs, und wir küßten beide das Schlüsselloch mit der größten Zärtlichkeit, – ich streichelte es mit der Hand, entsinne ich mich noch, als ob es ihr ehrliches Gesicht gewesen wäre, – und trennten uns. Seit dieser Nacht wuchs in mir ein Gefühl für Peggotty, das ich nicht recht beschreiben kann. Sie ersetzte mir nicht meine Mutter, niemand hätte das können, aber sie füllte eine Leere in meinem Herzen aus, die sich über ihr schloß, und ich fühlte etwas für sie, was ich nie für ein anderes menschliches Wesen empfunden habe. Es mischte sich das Gefühl des Komischen wohl unter meine Zärtlichkeit, und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, wie ich den Schmerz ertragen hätte, wenn sie gestorben wäre.
Frühmorgens erschien Miß Murdstone wie gewöhnlich und sagte mir, daß ich in die Schule geschickt würde, was mich durchaus nicht so überraschte, wie sie wohl angenommen hatte. Sie sagte mir auch, daß ich hinunterkommen sollte in die Wohnstube zum Frühstück. Dort fand ich meine Mutter sehr blaß und mit roten Augen. Ich lief ihr in die Arme und bat sie aus tiefbewegter Seele um Verzeihung.
»O Davy!« sagte sie, »daß du jemand weh tun konntest, den ich liebe. Versuche dich zu bessern, bete darum, daß du besser werdest. Ich verzeihe dir, aber ich bin voll Kummer, Davy, daß du ein so böses Herz hast.«
Sie hatten ihr eingeredet, daß ich ein verworfenes Geschöpf wäre, und das schmerzte sie mehr als mein Fortgehen. Auf mich machte es einen tiefen Eindruck.
Ich versuchte mein Abschiedsfrühstück zu essen, aber die