Dann blickte mich Miß Murdstone an und sagte:
»Ist das dein Junge, Schwägerin?«
Meine Mutter bejahte.
»Im allgemeinen«, sagte Miß Murdstone, »kann ich Jungen nicht leiden. Wie gehts dir, Junge?«
Unter diesen ermutigenden Umständen antwortete ich, daß es mir gut ginge und ich dasselbe von ihr hoffte, aber mit so wenig Wärme, daß Miß Murdstone mich mit den zwei Worten abfertigte:
»Keine Manieren.«
Nachdem sie dies mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wünschte sie auf ihr Zimmer geführt zu werden, das von der Zeit an für mich zu einem Ort des Grauens und der Furcht wurde, weil die beiden schwarzen Koffer stets verschlossen dort standen und eine Menge kleiner Stahlfesseln und Kettchen, mit denen sich Miß Murdstone zu verschönern pflegte, in furchtgebietenden Reihen über dem Spiegel hingen.
Soviel ich herausbekommen konnte, war sie in der Absicht gekommen, Gutes zu stiften, und sie trug sich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder wegzugehen. Schon am nächsten Morgen fing sie an, meiner Mutter zu »helfen«, und ging den ganzen Tag in der Vorratskammer aus und ein, um alles zurechtzusetzen und die alte Ordnung umzustürzen.
Ihre hervorstechendste Eigenschaft schien mir die zu sein, daß sie beständig argwöhnte die Dienstmädchen hielten irgendwo im Hause einen Mann verborgen. Von diesem Wahn besessen, tauchte sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten in den Kohlenkeller und öffnete fast nie die Tür dunkler Schränke, ohne sie zugleich wieder zuzuschlagen, im Glauben, daß sie »ihn« erwischt hätte.
Obgleich durchaus nichts Luftiges sonst an Miß Murdstone war, glich sie doch in puncto Frühaufstehen einer Lerche. Sie war auf den Beinen, wie ich heute noch glaube, um nach dem Mann zu suchen, ehe sich noch irgend etwas im Hause regte. Peggotty huldigte der Ansicht, daß sie stets nur mit einem Auge schliefe. Ich konnte mich diesem Glauben nicht anschließen, seit ich selbst versucht und herausgefunden hatte, daß so etwas nicht möglich ist.
Schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft stand sie früh auf und klingelte beim ersten Hahnenschrei. Als meine Mutter zum Frühstück herunterkam, gab ihr Miß Murdstone eine Art Schnabelhieb auf die Wange – das war bei ihr die kußähnlichste Bewegung – und sagte: »Nun, liebe Klara, du weißt, ich bin hergekommen, um dir alles abzunehmen. Du bist viel zu hübsch und gedankenlos,« – meine Mutter errötete, lachte aber und schien diese Charakterisierung nicht übel zu nehmen – »als daß dir Pflichten auferlegt werden dürfen, die ich erfüllen kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüssel zu übergeben, meine Liebe, so will ich alles das in Zukunft selber besorgen.«
Von dieser Zeit an behielt Miß Murdstone die Schlüssel den Tag über in ihrem Beutel und die Nacht über unter ihrem Kopfkissen; meine Mutter hatte nicht mehr damit zu tun, als ich selbst.
Meine Mutter ließ sich ihre Herrschaft nicht rauben, ohne vorher einen leisen Versuch von Widerstand zu machen. Eines Abends, als Miß Murdstone ihrem Bruder gewisse Haushaltungspläne entwickelt hatte und er seine Zustimmung gab, fing meine Mutter plötzlich an zu weinen und sagte, man hätte sie doch wohl auch zu Rate ziehen können.
»Klara,« sagte Mr. Murdstone streng, »Klara, ich bin erstaunt über dich!«
»Du hast gut von erstaunt sein sprechen, Edward,« rief meine Mutter, »und von Festigkeit, aber das würdest du dir auch nicht gefallen lassen.«
Festigkeit, muß ich bemerken, war die große Eigenschaft, auf der beide, Mr. und Miß Murdstone, fußten. Ich weiß nicht, welchen Namen ich damals dafür gewählt hätte, aber ich begriff genau, daß es nur eine andre Bezeichnung für Tyrannei war und für eine gewisse finstere, anmaßende, teuflische Laune, die in den beiden steckte. Das Glaubensbekenntnis, würde ich jetzt mich ausdrücken, Mr. Murdstones lautete: Ich bin fest, niemand soll in der Welt so fest sein wie ich, niemand überhaupt fest, und alles soll sich vor meiner Festigkeit beugen. Miß Murdstone war die eine Ausnahme. Sie durfte fest sein, aber nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten und in einem untergeordneten und tributpflichtigen Grad. Meine Mutter war die zweite Ausnahme. Sie konnte und durfte fest sein und mußte es, aber nur im Ertragen der Festigkeit der beiden andern.
»Es ist sehr hart,« sagte meine Mutter, »daß ich in meinem eignen Hause –«
»In meinem eignen Hause?!« wiederholte Mr. Murdstone. »Klara!«
»Unserm eignen Hause, meine ich,« stotterte meine Mutter ganz erschrocken, – »ich hoffe, du weißt, was ich meine, Edward, – es ist sehr hart, daß ich in deinem eignen Hause nicht ein Wort über häusliche Angelegenheiten sagen darf. Ich habe sicher sehr gut hausgehalten, ehe wir heirateten. Ich habe Beweise,« setzte sie schluchzend hinzu. »Frag nur Peggotty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht dreinredete.«
»Edward,« sagte Miß Murdstone, »machen wir der Sache ein Ende. Ich reise morgen ab!«
»Jane Murdstone!« donnerte Mr. Murdstone, »wirst du schweigen! Was unterstehst du dich!«
Miß Murdstone zog ihr Taschentuch aus dem Kerker und hielt es vor die Augen.
»Klara,« fuhr er fort, »du setzest mich in Erstaunen! Ja. Ich fand Befriedigung in dem Gedanken, eine unerfahrene und harmlose Person zu heiraten und ihren Charakter zu bilden und ihr etwas von der Festigkeit und Entschiedenheit zu geben, die ihr fehlen. Aber wenn Jane Murdstone so gütig ist, mir darin beizustehen, und meinetwegen eine Stellung gleich der einer Haushälterin übernimmt und dafür so schlechten Dank erntet, –«
»O bitte, bitte, Edward!« rief meine Mutter. »Sag nicht, daß ich undankbar bin. Ich bin sicher nicht un dankbar, das hat mir noch niemand gesagt. Ich habe viele Fehler, aber nicht diesen. Bitte, sage das nicht, Liebling!«
»Wenn Jane Murdstone, sage ich,« fuhr er fort, nachdem er meine Mutter hatte ausreden lassen, »dafür Undank erntet, so fühle ich meine Gefühle erkalten.«
»Liebling, bitte, sag das nicht,« flehte meine Mutter kläglich. »O bitte, Edward, ich kann das nicht ertragen. Wie ich auch immer sein mag, ich bin nachgiebig und dankbar. Ich weiß, ich bin es, bin nachgiebig und dankbar. Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht gewiß wüßte. Frag nur Peggotty. Sie wird es gewiß bestätigen.«
»Bloße Schwäche fällt bei mir nicht ins Gewicht, Klara,« entgegnete er. »Du verschwendest nur deine Worte.«
»Komm, laß uns wieder gut sein,« sagte meine Mutter. »Ich könnte nicht leben in Kälte und Unfreundlichkeit um mich herum. Es tut mir so herzlich leid. Ich habe sehr viele Fehler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Edward, daß du mit deinem starken Charakter dir Mühe gibst, mich zu bessern. Jane, ich will dir nicht mehr widersprechen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du nur daran dächtest, uns zu verlassen –« meine Mutter konnte nicht weiter sprechen vor lauter Rührung.
»Jane Murdstone,« sagte Mr. Murdstone zu seiner Schwester, »harte Worte sind zwischen uns selten. Es ist nicht meine Schuld, daß heut abends ein so ungewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Ich wurde von jemand anders dazu gebracht. Aber es ist auch nicht deine Schuld, auch dich hat jemand in eine schiefe Lage gebracht. Wir wollen beide trachten, es zu vergessen. Und da dies,« fügte er nach diesen großmütigen Worten hinzu, »kein passendes Bild ist für den Knaben, so geh zu Bett, David.«
Ich konnte kaum die Türe finden, so voll Tränen standen meine Augen. Ich fühlte meiner Mutter Schmerz so tief mit; ich schlich hinaus und tappte im Dunkeln die Treppe hinauf in mein Zimmer, ohne nur das Herz zu haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir eine Kerze von ihr geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach mir sah, wachte ich auf, und sie sagte mir, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen, und Mr. und Miß Murdstone säßen noch unten allein.
Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als gewöhnlich hinunter und hörte, wie drinnen meine Mutter Miß Murdstone demütigst um Verzeihung bat. Die Dame verzieh ihr, und es fand eine vollständige Aussöhnung statt. Nie wieder später hörte ich meine Mutter über irgend etwas eine Meinung äußern, ehe