„Ja, das … ich …“ Verzweifelt rang ich um eine Antwort. „Ich habe – nein, ich war – ich wollte mich mit jemandem treffen.“
Ich war heilfroh, als Rubina sich endlich zurücklehnte. Meine Antwort schien sie zufriedenzustellen, ja sogar zu erleichtern. „Ein Treffen also.“ Sie sah Grannie vielsagend an. Ihnen beiden schien etwas klar geworden zu sein, das sich mir noch nicht erschloss.
„Beim nächsten Mal solltet ihr einen anderen Treffpunkt wählen“, sagte Rubina schließlich.
„Der Wald ist gefährlich, Kindchen“, ergänzte Grannie und nahm meine Hände, „Du solltest vorsichtiger sein. Egal, wie viel er dir bedeutet, wenn er dich nur in diesem Wald treffen will, dann kann wenig Ehrenhaftes an ihm sein.“ Ich runzelte die Stirn. Was zum Himmel wollte sie mir denn damit … Dann verstand ich.
„Nein, es ist – “ Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig bremsen und mit zusammengepressten Lippen nicken. „Ja. Ich werde daran denken.“
Grannie lächelte. Da hatte ich gerade nochmal die Kurve gekriegt.
„Also, Schätzchen. Wenn du möchtest, kannst du die Nacht über hierbleiben. Das Gewitter wird sicherlich noch eine ganze Weile dauern.“
Obwohl ich damit hätte rechnen können, traf mich Grannies Angebot völlig unvorbereitet. „Das … das ist sehr nett von Ihnen –“
„Dir.“ Sie sah mich aufmunternd an.
Ich rang mir ein schmales Lächeln ab. „Richtig. Es ist sehr nett von … dir, aber … nur interessehalber … wie weit ist es denn von hier aus nach Calgary? Meine Eltern machen sich Sorgen, wenn ich nicht nach Hause komme und ich will ihnen auf keinen Fall zu Last –“
„Oh, nein. Nein, Schätzchen. Du fällst uns doch nicht zur Last.“
„Aber meine Eltern würden sicher gern wissen, wo ich bin. Wenn es nicht allzu weit ist, könnten sie mich vielleicht abholen.“
Rubina sah mich skeptisch an. „Dich … abholen?“, wiederholte sie langsam, „Bei diesem Wetter?“
Ich nickte. „Wenn Sie … ihr mir die Adresse hier sagen könntet …“ – und ich einen Ort in diesem Haus finden würde, an dem ich Empfang hatte – „… dann könnte ich meinen Eltern vielleicht Bescheid sagen.“
Jetzt lachte Rubina auf, laut und schallend. „Wie willst du das denn anstellen?“, prustete sie, „Telepathie?“
Ich zog die Brauen zusammen. „Nein, ich …“ Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass die beiden nicht zu wissen schienen, was ein Telefon war. „Ist egal“, winkte ich deshalb gleich darauf wieder ab, „Ich werde einfach …“ Krampfhaft überlegte ich, wie ich sie doch noch dazu bringen könnte, mir den Ort zu verraten, an dem wir uns befanden. Calgary musste doch höchstens eine halbe Stunde entfernt sein. Wenn ich nur die Richtung wüsste …
„Mach dir keine Sorgen, Schätzchen“, unterbrach Grannie meine Gedanken, „Deine Eltern werden schon zurechtkommen. Und morgen siehst du sie ja schon wieder und kannst ihnen alles erklären. Ich bin sicher, sie wären mehr als froh, zu hören, dass du diese Nacht sicher und im Trockenen verbracht hast.“
Ich konnte nicht anders. Ergeben nickte ich schließlich. „Das wären sie.“
„Na siehst du, Kleines.“ Grannie lächelte. „Dann zeige ich dir gleich das Gästezimmer. Du bist doch sicher müde, nicht wahr? Du siehst ziemlich erschöpft aus.“
„Ich …“
„Möchtest du noch einen Tee vor dem Schlafengehen? Ein Bad?“
„Grannie.“ Rubina war sichtlich genervt von den Angeboten ihrer Großmutter. „Bring sie doch einfach ins Gästezimmer. Ein warmes Bett sollte mehr als genügend sein. Wir sind doch schließlich keine Herberge für Verirrte –“
„Ruby!“ Kopfschüttelnd sah Grannie sie an.
„Ist schon in Ordnung“, schaltete ich mich schnell ein, „Ich brauche kein Bad. Ich würde einfach gern schlafen gehen, wenn das Ihnen … euch nichts ausmacht.“
„Oh, natürlich nicht, Kleines, natürlich nicht.“ Grannie lächelte mild. „Ich zeige dir das Zimmer. Ruby?“ Grannie stand auf. „Holst du schnell noch ein frisches Laken und ein Handtuch für Evangeline?“
Alles andere als begeistert sah Rubina ihre Großmutter an, folgte schließlich aber wortlos ihrer Anweisung.
„Na komm, Schätzchen“, wandte sich Grannie daraufhin wieder mir zu, „Unser Gästezimmer ist zwar nicht besonders eindrucksvoll, doch wie sagt man so schön: Klein, aber fein.“ Sie schmunzelte und deutete zur Treppe.
„Da entlang, Liebes.“
*****
Ich stand am Fenster. Draußen stürmte es noch immer. Das stetige Prasseln des Regens wirkte von hier drinnen eigenartig beruhigend. Und auch die Blitze und einzelnen Donnerschläge hatten an Gefährlichkeit verloren. Jetzt war es fast, als wäre ich einfach nur ein Außenstehender, ein Beobachter hinter einer Glasscheibe, die Welt dahinter seltsam fremd und unbekannt.
Trotz der offensichtlichen Ablehnung, die Rubina mir entgegenbrachte, war ich froh, nicht mehr da draußen sein zu müssen. Das Zimmer, das Grannie und Rubina mir für diese Nacht überlassen hatten, war tatsächlich nicht besonders groß, doch für ein schmales Bett, einen Stuhl und einen kleinen Waschtisch reichte es allemal. Grannie hatte sogar angeboten, die altmodische Öllampe, die in der Mitte des Raumes hing, anzuzünden, doch ich hatte dankend abgelehnt.
Kurz darauf war Rubina mit den frischen Laken und einem Handtuch eingetroffen und obwohl ich Grannie erklärt hatte, dass ich das Bett auch allein machen könnte und sie wirklich schon genug für mich getan hätten, hatte Grannie in ihrer typisch-großmütterlichen Art darauf bestanden, das Bett selbst zu beziehen.
Als sie sich etwas später beide zurückgezogen hatten, hatte ich sie noch lange unten streiten gehört. Ich verstand nichts Konkretes, doch Rubina war so aufgebracht, dass ich einige Male beim Klang ihrer Stimme zusammenzuckte. Ich war fast sicher, dass es dabei um mich ging, doch ich konnte noch immer nicht verstehen, warum sich Rubina mir gegenüber so feindselig verhielt. Außer unerwünscht in dieses Haus zu platzen – in Todesangst wegen des Gewitters, wohlbemerkt – hatte ich ihr doch nichts getan.
Ich schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Schließlich war es nur eine Nacht und der einzige Stuhl in diesem Zimmer klemmte unter der Klinke der Tür – nur, um sicherzugehen.
Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit meines Smartphones. 23:07 Uhr. Grannie und Rubina waren bereits vor einer halben Stunde zu Bett gegangen und das Haus lag seitdem in Stille. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, wie alles nur dermaßen hatte schieflaufen können.
In einem Moment folgte ich der Einladung meines mysteriösen Stalkers und im nächsten übernachtete ich mutterseelenallein bei völlig Fremden in einer Hütte am Ende der Welt. Warum hatte ich den blöden Brief auch öffnen müssen, anstatt ihn einfach anzuzünden und das Papier brennen zu sehen?
Ich seufzte. Himmel, ich hatte mich noch nie so allein gefühlt. Ich konnte nur hoffen, dass bei Tageslicht alles besser aussah und ich den Rückweg nach Calgary fand. Für diese Nacht jedenfalls war ich am Ende. Nicht nur mein Körper, auch mein Verstand sehnten sich nach Schlaf, nach der Dunkelheit des Vergessens – zumindest für einige Stunden.
Erschöpft zog ich schließlich die dünnen Lederschuhe aus und hüllte mich dann, so wie ich war, in die Decke. Wärme umhüllte mich und ich schloss die Augen, vergrub mein Gesicht tief in dem weichen Kissen und atmete den klaren Geruch nach weißem Stoff.
Für einen kurzen Moment