Die Rebellenprinzessin. Anna Rawe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Rawe
Издательство: Bookwire
Серия: Evangeline
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742717344
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habe ihn noch nicht geöffnet“, platzte ich völlig unerwartet heraus. Auch Carly wirkte überrascht, denn einige Momente lang sagte sie gar nichts, sah mich bloß forschend an.

      „Ich sollte wohl langsam gehen“, verkündete ich schließlich, „Mom wird sicherlich bald heimkommen und ich habe Ced versprochen, mit ihm LEGO zu spielen.“

      „Klar, natürlich.“ Carly nickte, doch sie wirkte irgendwie eigenartig. „Wir sehen uns ja sicherlich morgen wieder.“

      „Ja, bestimmt“, entgegnete ich knapp, während ich meinen Mantel überstreifte und den Brief in meine Tasche gleiten ließ, „Bis dahin.“

      Ich hatte es plötzlich wahnsinnig eilig, das Café zu verlassen. Der seltsame Blick, mit dem Carly mich seit meiner – zugegeben nicht ganz ungefährlichen – Aktion bedachte, war mir unangenehm und der Brief lauerte noch immer ungeöffnet in meiner Tasche.

      „Bis morgen“, verabschiedete Carly sich mit einem Lächeln, „Und pass auf dich auf, ja?“

      Ich nickte bloß und nahm meine Tasche. „Bis morgen.“

      Ich spürte ihren Blick noch Sekunden, nachdem ich das Café verlassen hatte. Besorgt und irgendwie auch mitleidsvoll hatte sie ausgesehen – als wäre ich ein kleines Kind, das sie davor bewahren musste, irgendeine Dummheit zu machen. Pass auf dich auf. Wirkte ich denn tatsächlich so mitgenommen? So zerbrechlich?

      *****

      Ich sah aus dem Fenster.

      Vor meinen Augen verschwamm die Welt da draußen zu einem unscharfen Aquarell aus wirbelnden Farben. Wenn ich die Lider ein wenig verengte, konnte ich die Gischt spritzen sehen, das tiefblaue Meer, das krachend gegen die kreidebleichen Felsen schlug. Manchmal träumte ich, ich wäre wieder dort, würde an den Klippen sitzen, die Füße in der Luft baumelnd und dem tosenden, schäumenden Lied des Meeres lauschen. Für einen kurzen Moment war alles wieder wie früher. Wenn ich tief atmete, konnte ich sogar das Salz riechen, den Wind auf meiner Haut spüren, der mein Haar zerzauste.

      Dann schlich sich plötzlich ein anderes Bild in meinen Tagtraum. Der Brief brannte wie Feuer in meiner Hosentasche und vor meinen Augen verwandelten sich die Klippen in den modernen Gebäudekomplex meiner neuen Schule. Die spritzende Gischt erstarrte innerhalb von Sekunden zu einem betonierten Schulhof und als ich hinuntersah, traf mich ein Blick aus blauen Augen. Er stand mitten auf dem Hof, die Arme verschränkt und die Miene selbst aus dieser Entfernung noch fordernd, als wüsste er, dass ich den Brief noch immer nicht geöffnet hatte.

      Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, den Blick abzuwenden. Dennoch tasteten meine Finger in der Hosentasche nach dem kleinen Umschlag. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn zu öffnen. Ehrlich gesagt, hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verbrennen. Immerhin konnte es mir egal sein, was darinstand. Ich hatte keine Zeit für irgendwelche Spielchen und außerdem …

      „Evangeline?“

      Als ich aufsah, traf mich Mr. Delanys vorwurfsvoller Blick.

      „Was ist das?“, fragte er und deutete auf meinen Tisch. Meine Augen folgten seiner Hand, bis die Spitze seines Fingers auf meinen Block traf. Mein Stift lag nach wie vor quer über der unbeschriebenen Seite.

      Verwirrt hob ich den Kopf. „Was …?“

      Mr. Delany stemmte die Hände in die Hüften. „Du willst mir nicht erzählen, du könntest die Stoffwechselprozesse einer Zelle aus dem Gedächtnis herbeten, oder?“

      „Ich …“ Hilflos zuckte ich die Schultern. „Nein.“

      „Also, warum sehe ich keine Mitschriften?“

      Verlegen schwieg ich. Hinter meinem Rücken hörte ich den Kurs murmeln und wispern. Mr. Delany beugte sich näher zu mir.

      „Du bist keine schlechte Schülerin, Evangeline“, sagte er dann, „Ganz im Gegenteil. Ich denke, du könntest sogar einen Abschluss mit Bestnoten schaffen.“

      „Aber …“

      „Kein Aber.“ Mr. Delany deutete auf meinen leeren Block. „Ich erwarte, dass du zumindest in meinem Unterricht auch die Voraussetzungen dafür legst. Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, wie du aus dem Fenster starrst …“

      „Tut mir leid“, murmelte ich schnell, „Kommt nicht wieder vor.“

      Er schüttelte bloß den Kopf. „Das will ich auch nicht hoffen. Und jetzt fang endlich damit an, das Schema abzuzeichnen. Ich brauche den Platz an der Tafel.“

      Erst, als er mir wieder den Rücken zuwandte und sich zurück zur Tafel begab, wagte ich es, auszuatmen. Dann griff ich nach dem Stift und machte mich daran, das Schema in meinen Block zu skizzieren, während ich mir schwor, noch heute Abend diesen Brief zu verbrennen.

      *****

      Ich lauschte meinen eigenen Atemzügen. Im Haus war schon vor Stunden Ruhe eingekehrt. Das Display meines Smartphones tauchte den Raum in unheimliches Licht. Ein Uhr.

      Entschlossen warf ich die Decke zurück und setzte mich auf. Dann öffnete ich die Nachttischschublade und holte den kleinen Umschlag und ein Feuerzeug hervor, das ich aus einer der Küchenschubladen entwendet hatte. Ein letztes Mal drehte ich das Papier zwischen den Fingern.

      Genug. Seit anderthalb Tagen trug ich diesen bescheuerten Umschlag nun schon mit mir herum wie eine tickende Bombe. Es war geradezu lächerlich, vor allem, weil ich mich nach wie vor weigerte, ihn zu öffnen. Meine Finger kribbelten und ein Teil von mir hätte das Papier am liebsten in Fetzen zerrissen, um herauszufinden, was das alles sollte, doch meine Vernunft erinnerte mich auch dieses Mal daran, dass ich keine Hand an die verklebte Lasche legen sollte.

      Stattdessen hob ich das Feuerzeug. Je weniger ich wusste, desto einfacher wäre es, diese Sache zu vergessen. Mit einem leisen Klicken erwachte die Flamme zum Leben. Langsam hielt ich den Umschlag über das züngelnde Feuer.

      „Nicht.” Ich fuhr auf und unterdrückte einen Schrei. Das Feuerzeug rutschte mir aus der Hand, während ich instinktiv ans andere Ende des Betts hechtete. Meinen Rücken gegen die Wand gepresst starrte ich den Jungen an. Kein Zweifel. Sein Haar strahlte selbst im Schein meiner Handytaschenlampe noch wie Flachs und die blauen Augen verfolgten mich bis in meine Tagträume.

      „Was willst du?” Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, waren meine Eltern, die um ein Uhr nachts einen fremden Kerl in meinem Zimmer fanden. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht erklären konnte, wer er war oder wie er hier hereingekommen war.

      „Lies den Brief.” Seine Stimme war entschieden und sein Blick ließ nicht für eine Sekunde von mir ab.

      „Ich werde ganz sicher nicht tun, was – ”

      „Lies. Den Brief.” Er trat einen Schritt näher und ich presste mich fester gegen die Wand.

      „Wer bist du?” Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ich verfluchte mich selbst dafür, dass ich so wenig Selbstbeherrschung aufbrachte. Den Jungen schien es wenig zu interessieren. Anstelle einer Antwort deutete er auf das kleine Stück Papier in meiner Hand. „Lies es.”

      Dann wandte er mir den Rücken zu und verschwand. Wortwörtlich.

      Ungläubig starrte ich auf die Stelle, an der er noch Augenblicke zuvor gestanden hatte. Nichts. Als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, während ich mich langsam an die Bettkante schob. Lange Schatten durchzogen mein Zimmer und die Bäume vor meinem Fenster ächzten im Wind. Vorsichtig schlüpfte ich in meine Schlappen und stand auf. Noch bevor ich den Lichtschalter erreicht hatte, wusste ich, dass er nicht mehr da war. Die Präsenz anderer, die man unterbewusst immer spürte, war verschwunden. Der Blick durch mein hell erleuchtetes Zimmer bestätigte das Gefühl – ich war allein.

      Dennoch streifte ich durch den Raum, überprüfte meinen Schrank und sah unter dem Schreibtisch nach, bis ich schließlich das Licht wieder ausschaltete und ans Fenster trat. Auch draußen war keine Spur von dem seltsamen Jungen