Wenn ich die Augen nicht öffnete, konnte ich mir Ceds Zimmer neben meinem vorstellen, seinen kleinen Körper, der sich unter seinen Atemzügen sanft hob und senkte. Wenn ich die Augen nicht öffnete, konnte ich mir die leisen Stimmen meiner Eltern vorstellen, die unten im Wohnzimmer saßen, Wein tranken und bis tief in die Nacht hinein redeten, während der Fernseher im Hintergrund lief.
Wenn ich die Augen nicht öffnete …
*****
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich eingeschlafen war. Als ich aufschreckte, wusste ich nicht, wo ich war. In meinem Kopf hallten die letzten Worte aus meinem Traum wider. Er darf dich nicht finden.
Ich wusste nicht, warum ich wach geworden war; das Haus lag vollkommen still da. Trotzdem raste mein Puls.
Verdammter Alptraum.
Leise stand ich auf und schlich zum Waschtisch. Die zart bemalte Keramikschüssel, die darauf stand, war mit Wasser gefüllt. In der glatten Oberfläche spiegelte sich mein Gesicht.
Meine blaugrauen Augen geschwollen vom Schlaf, mein blondes Haar noch immer – oder schon wieder – zerzaust, bot ich einen erbärmlichen Anblick.
In diesem Moment schwor ich mir, so etwas nie wieder zu tun. Nie wieder auf blöde Streiche oder Halluzinationen oder was immer es mit diesem Typen und dem Brief sonst auf sich hatte, hereinzufallen. In der Dunkelheit war es leichter, mir einzugestehen, wie viel Angst ich wirklich hatte. Ich wollte einfach nur noch nach Hause.
Plötzlich erzitterte mein Gesicht. Das Wasser bewegte sich, sandte Wellen kreisförmig von der Mitte zum Rand und zurück. Was war das?
Dann ein dumpfer Knall. Ich erstarrte. Ein weiterer Knall. Mein Herz schlug schneller. Vorsichtig schlich ich zur Tür und zog den Stuhl unter der Klinke hervor. „Grannie?“, fragte ich leise, „Rubina?“ Keine Antwort.
Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus in den Flur. Wieder ein dumpfer Knall. Das Haus erzitterte. Aber im Flur war niemand zu sehen. Ich trat nach draußen und schloss die Tür behutsam hinter mir. „Rubina?“, fragte ich noch einmal, „Grannie?“ Wieder keine Antwort.
Ich ging auf die Treppe zu. Durch ein kleines Fenster am anderen Ende des Flurs fiel helles Mondlicht. Ich setzte einen Fuß auf die erste Stufe. Die Wand erzitterte abermals unter einem Knall.
Was passierte hier?
Zögernd stieg ich weiter nach unten. Auf der vierten Stufe blieb ich stehen; von hier konnte ich den Wohnraum gerade so überblicken. Gebückt versuchte ich den Auslöser für die immer wiederkehrenden Stöße zu entdecken.
Mein Blick blieb an zwei Gestalten hängen. Rubina in einem dunklen Mieder und engen Hosen stand breitbeinig und mit zwei Händen an einer langen Klinge vor Grannie, die - wie ich bei genauerem Hinsehen feststellte - ebenfalls ein Schwert hielt. Ein Schwert?
Ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wie erstarrt haftete mein Blick an den beiden Frauen. Grannie, mit ihren weißen Locken und dem steinernen Gesichtsausdruck. Ihre Hände zitterten, hielten das Schwert nicht ganz gerade. Neben ihr Rubina, das Schwert fest umklammert, kein Zittern, keine Angst. Angst wovor?
Ein weiterer Knall erschütterte das Haus. Die Tür ächzte in den Angeln.
Mir wurde flau im Magen.
Was zur Hölle ging hier vor?
Meine Hände zitterten. Der nächste Knall ließ mich zusammenzucken.
Was war da draußen? Was war hinter der Tür?
Mein Puls raste. Die Stille war geladen. Überall pulsierte die Energie, den kleinen Funken erwartend, der das Feuerwerk entzünden würde. Ich hielt den Atem an. Jeder Muskel meines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Das Herz schlug gegen meine Rippen.
*****
Die Stille zerriss in einem ohrenbetäubenden Knall. Metall klirrte. Splitter schossen wie Kugeln durch den Raum. Das kleine Haus erzitterte bis auf die Grundmauern. Ich unterdrückte einen Schrei.
Ein Loch prangte dort, wo vor wenigen Sekunden noch die Tür gewesen war. Der abrupte Luftzug löschte das letzte Glühen des Feuers. Durch den Rahmen fluteten einzelne Streifen weißen Mondlichts, die eine riesige Silhouette umrissen.
Ich sah zu Rubina und Grannie. Überraschung ließ ihre Gesichter erbleichen. In Grannies Miene spiegelte sich Furcht, doch das Schwert lag nun fest in ihrer Hand. Rubina presste die Kiefer aufeinander. Ihre Knöchel am Griff des Schwertes traten weiß hervor.
Der Schatten im Türrahmen wuchs. Zentimeter um Zentimeter schälten sich seine Konturen aus der Dunkelheit. Nachtgraues Fell, das im Mondlicht seidig glänzte. Ein muskulöser Körper. Pranken mit scharfen Krallen, die ein schauerliches Kratzen auf dem alten Holzboden erzeugten. Die spitzen Ohren waren aufgestellt, lauschten jeder Bewegung, jedem Atemzug.
Langsam bewegte es sich auf die beiden Frauen zu, die Lefzen nach oben gezogen, sodass man die messerscharfen Zähne im Mondlicht weiß schimmern sah. Ein Knurren ertönte, das mir durch Mark und Bein fuhr. Jede Faser meines Körpers vibrierte.
Kalte Mordlust blitzte in den grellgelben Augen auf. Wie versteinert saß ich auf der Treppe, unfähig auch nur einen einzigen Finger zu bewegen. In Zeitlupe beobachtete ich die Bestie, die ihren riesigen Körper anspannte und ihr Gewicht auf die Hinterbeine verlagerte.
Ich öffnete meinen Mund zu einem stummen Schrei.
Die Bestie sprang.
Plötzlich ging alles so schnell. Der gewaltige Wolf warf sich direkt auf Rubina.
„Ruby!“ Grannies Schrei zerfetzte die Luft.
Rubina rollte sich zur Seite. Die Bestie krachte auf den Boden, dahin, wo vor wenigen Sekunden noch Rubina gestanden hatte. Rubina erhob ihre Klinge und riss eine klaffende Wunde in die ungeschützte Seite der Bestie. Dickes rotes Blut ergoss sich in Strömen über das Fell. Das Wesen grölte vor Schmerz und rappelte sich auf. Es fokussierte Rubina, bewegte sich direkt auf sie zu.
Sie wich zurück an die Wand, näher und näher. In ihrem Gesicht spiegelte sich bleiche Angst. Ein letztes Verharren, ein letztes Luftholen, dann stürzte sich die Bestie auf sie. Berge von Fleisch und Muskeln begruben Rubina unter sich.
Ein unmenschlicher, fast animalischer Schrei durchschnitt die Luft. Mit erhobenem Schwert stürzte Grannie sich auf die Bestie. Ihre Klinge drang mitten in den gewaltigen Körper. Die Bestie brüllte, bäumte sich auf, während Grannie das Schwert tiefer in ihren Körper trieb. Blutige Ströme rannen über das glänzende Fell.
Rasend vor Wut fuhr die Bestie herum. Wie eine lästige Fliege schüttelte sie Grannie einfach ab, bevor sie auf sie losging.
Du musst ihnen helfen!, schrie eine Stimme irgendwo in meinem Kopf, Hilf ihnen, verdammt!
Doch ich konnte nicht. Angst lähmte mich wie ein Gift. Sie verteilte sich schleichend in meinem Körper und ich konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie das Monster nun Grannie in die Enge trieb.
Eine Bewegung in meinem Augenwinkel ließ mich den Kopf drehen. Rubina war aufgestanden. Riesige Krallen hatten tiefe Wunden in ihre helle Haut gerissen. Gesicht und Hände waren blutverschmiert, ihre Klinge tropfte rot. In ihrer Miene war jedoch keine Spur von Schmerz zu sehen. Nur Ruhe, tiefe konzentrierte Ruhe und das Funkeln lodernder Wut in ihrem Blick.
Mit einem einzigen Aufschrei schoss sie auf die Bestie zu und rammte die Klinge in die ungeschützte Flanke. Das Wesen brüllte markerschütternd, den gewaltigen Schädel nach oben gerissen. Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen – die Welt verstummte.
Viel zu spät bemerkte ich die weißen Zähne, kleine Dolche, die knapp über Grannies Schlüsselbein in ihrem Fleisch steckten. Ich sah das Blut – Grannies Blut – das wie dunkler Rotwein über ihre Haut floss und sich auf dem Holzboden ausbreitete. Eisengeruch durchdrang die Luft. Grannies Kopf hing schlaff zur Seite. Unfähig, zu begreifen beobachtete ich die Szene.
„Nein!“