Die Rebellenprinzessin. Anna Rawe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Rawe
Издательство: Bookwire
Серия: Evangeline
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742717344
Скачать книгу
verstummten sie ganz. Der Geruch des Hirsches lag noch immer deutlich zwischen den anderen Düften des Waldes, doch nicht länger spürte er das Pulsieren des Blutes oder den Drang, seine Zähne in den empfindlichen Hals des Tieres zu schlagen. Zögernd setzte er eine Pfote vor die andere, bis er sicher war, tatsächlich wieder Herr seiner Sinne zu sein. Dann jagte er in kräftigen Sprüngen davon.

      Als er die Lichtung fand, nahte die Dämmerung bereits. Die Steine waren teilweise von Moos und Flechten bewachsen und es brauchte einen Moment, bis er den Kreis ausgemacht hatte, den sie bildeten. Langsam trat er zwischen ihnen hindurch und näherte sich der Mitte, während sein Blick die Umgebung musterte. Im Mondschein sah die Lichtung bleich und kalt aus. Schwarze Baumriesen umzingelten den Kreis von allen Seiten und streckten ihre langen Arme nach ihm aus. Es schien, als wären alle Geräusche unter einem Mantel tiefer Stille verschwunden. Seine empfindliche Nase, die sonst jeden noch so schwachen Duft anderer Lebewesen wahrnahm, fand in der klaren Luft kaum mehr als den Geruch des Waldes. Er war allein, so vollkommen allein wie er seit seiner ersten Verwandlung nicht mehr gewesen war.

      Tu es. Die Stimme seiner Mentorin war klar. Du musst sie finden, Conan. Eure Schicksale sind miteinander verbunden wie die Fäden eines Spinnennetzes.

      Er kannte seine Aufgabe. Langsam erhob er den Kopf und stieß den ersten Ton hervor.

      Das tiefe Grollen, das seine Kehle verließ, hatte nichts mit den Worten gemein, die sein Verstand wiederholte. Es waren fremde Worte. Worte, deren Klang er nie zuvor gehört hatte und der doch so selbstverständlich in ihm sang wie ein Kinderlied. Magie.

      Er spürte das Flimmern in der Luft und ahnte, dass es soweit war. Der erste Stein begann, bläulich zu glimmen. Mit jedem Wort, das er sprach, vervielfachte sich das Leuchten, bis auch die nebenstehenden Steine erstrahlten. Ringsum wurde der Kreis nun von gespenstischem Leuchten erhellt. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm schlecht wurde, doch er hielt nicht inne. Das tiefe Grollen, das seine Worte nach außen trug, schwoll nur noch an, bis das Licht um ihn so gleißend war, dass er die Augen zu Schlitzen verengte.

      Sein Knurren verwandelte sich in ein tiefes, wölfisches Heulen und als der letzte Ton verstummte, schoss Licht in Kaskaden durch den Wald. Die Luft explodierte und flog ihm in kleinen Fetzen um die Ohren. Seltsame Kräfte rissen an ihm, während der Wirbel aus Sturm und Licht ihn verschlang.

      Das war das Ende. Und der Anfang.

      Kapitel 1

      Strahlende Herbstsonne fiel durch die großen Glasfenster und tauchte das kleine Café in warmes Gold. Obwohl der Oktober dieses Jahr für kanadische Verhältnisse warm ausfiel, sah ich zahlreiche Menschen mit dicken Winterjacken und großen Schals draußen vorbeieilen. Schnell hierhin, schnell dorthin. In einer Stadt wie Calgary musste alles schnell gehen. LKWs und gelbe Taxis drängten sich auf den Straßen. An manchen Tagen war der Verkehr hier so dickflüssig wie Sirup, der die schnurgeraden Straßen zwischen den Hochhäusern verklebte. Ich schüttelte den Kopf. Was für eine absurde Vorstellung. Meine kleine Tagträumerin, nannte Mom mich immer, wenn ich mal wieder der Welt um mich herum mehr Beachtung schenkte, als dem Gespräch, das wir gerade führten.

      „Ein Latte Macchiato mit extra viel Schaum für das geheimnisvolle Mädchen am Fenster.“ Die Bedienung grinste breit, während sie das Glas abstellte. Sie war in ihren Zwanzigern, eine kurvige Frau mit rosa Wangen und kleinen Grübchen – der Typ Mensch, den man einfach mögen musste.

      „Du bist neu hier, nicht wahr?“, fragte sie, „Ich habe dich schon einige Male im Café gesehen. Ich bin Carly.“

      „Evangeline“, stellte ich mich vor, „Und ja, wir sind erst vor einigen Wochen hergezogen.“

      Carly lächelte zufrieden. „Das habe ich mir schon gedacht“, erklärte sie, „Du klingst nicht wie eine Kanadierin. Eher … irgendwie britisch?“

      Sie sah mich fragend an.

      „Schottland“, bestätigte ich, „Eine Kleinstadt an der Ostküste, nahe Edinburgh.“

      Carly war gerade in Begriff, zu antworten, als nach ihr gerufen wurde. Entschuldigend hob sie die Hände. „Tut mir leid, ich muss wieder an die Arbeit.“ Ihr Blick fiel auf meinen Kalender, der vor Hausaufgaben, Referaten und Terminen fast überquoll. Ich hatte nicht geahnt, dass der Umzug so viel nachzuholendes Unterrichtsmaterial bedeuten würde. „Wie es aussieht, hast du ja auch noch einiges vor dir.“

      Ich nickte. „Leider, ja.“

      „Das wird schon“, meinte Carly lächelnd, „War jedenfalls schön, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, man sieht sich mal wieder, nicht wahr?“

      „Auf jeden Fall.“

      „Bis dahin.“ Sie winkte leicht, bevor sie sich umdrehte und zurück an die Arbeit ging.

      Ich löffelte einen kleinen Berg Milchschaum von meinem Kaffee und warf einen Blick aus dem Fenster.

      Da sah ich ihn.

      Die Hände in den Taschen seiner Jeans lehnte er an der Wand des gegenüberliegenden Gebäudes und starrte mich so offen an, dass ich erschauerte. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen – ein strahlendes Blau, das perfekt zu seinem hellen Haar passte. Etwas wild und sehr blond, wirkte es in der klaren Oktobersonne fast wie ein Heiligenschein, der seine feinen Gesichtszüge umrahmte. Er konnte höchstens ein paar Jahre älter sein als ich. Und noch immer sah er zu mir herüber. Zweifellos zu mir.

      Ein Geräusch ließ mich aufschrecken. Auf dem Display meines Smartphones erschien eine neue Nachricht. Maggie.

      „Bin in einer Stunde daheim, dann können wir skypen.“

      Eilig entsperrte ich das Display und antwortete.

      „Okay. Bis dann.“

      Es konnte nur Sekunden gedauert haben. Doch als ich wieder aufsah, war der Typ verschwunden. Die Wand gegenüber war leer, der blonde Haarschopf wie vom Erdboden verschluckt. Bei dem Versuch, die Straße weiter hinunterzusehen, hätte ich fast noch meinen Kaffee umgestoßen. Er war einfach weg.

      Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Jetzt fing ich schon an, paranoid zu werden. Geistesabwesend trank ich einige Schlucke, während ich erneut versuchte, mich in die Bio-Aufgaben zu vertiefen. Ich machte mir einige Notizen, Skizzen, blätterte durch das zerlesene Buch, das ich vor ein paar Wochen bekommen hatte – doch die blauen Augen wollten einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden. Lächerlich, wie tief man sich doch in Tagträume stürzen konnte, nur um lästigen Hausaufgaben zu entkommen.

      Ich schüttelte den Kopf. Das hier wurde so nichts mehr.

      In einem Schluck kippte ich den restlichen Kaffee hinunter und packte das Notizbuch und meinen Kalender ein.

      Noch immer in Gedanken verließ ich das Café und machte mich auf den Heimweg.

      *****

      Wir hatten ein Haus am Stadtrand gekauft, nahe dem Elbow River, in einem der reicheren Viertel. Sienna Hills war eines dieser kleinen Wohngebiete mit Vorgärten, typisch-amerikanischen Holzhäusern in glänzendem Weiß und riesigen Pick-ups in den Einfahrten, wo die Gebäude ordentlich nebeneinander aufgereiht standen und alles irgendwie gleich aussah.

      Unser Haus machte dabei keine Ausnahme – abgesehen davon, dass es schon ein bisschen heruntergekommen war.

      „Es hat Charme“, sagte Dad immer, wenn das Thema aufkam, „Und sobald wir uns etwas eingelebt haben, werde ich das Dach ausbessern und die Fassade neu streichen. Eine andere Farbe kann Wunder wirken, wisst ihr?“

      Die Haustür war abgeschlossen und ich brauchte einige Minuten, um den Schlüssel aus meiner hoffnungslos überfüllten Tasche zu fischen. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen schwang die Tür schließlich doch noch auf.

      Der Flur dahinter war ein einziger Hindernisparcours aus vollen Umzugskartons, halb aufgebauten Möbeln und jeder Menge Krimskrams, der seinen Platz in unserem neuen Haus noch nicht gefunden