„Es ist ziemlich kompliziert.” Raymond fuhr sich durch das dunkle Haar. „Aber in der Kurzform gibt es eine Art Prophezeiung, die besagt, dass jemand von außerhalb unserer Welt das Land aus der Tyrannei der Königin befreien wird. Und, naja, du bist seit einhundert Jahren die erste von Außerhalb, die Ciaora betreten hat.”
„Das ist doch nicht wahr!” Die Übelkeit, die mir noch Momente zuvor so schwer im Magen gelegen hatte, verwandelte sich in rasende Wut. „Sie wollen mir also allen Ernstes erzählen, dass Sie an eine dämliche Prophezeiung glauben?”
„Die Königin – Morrigan – glaubt daran”, entgegnete Raymond sachlich, „Und sie wird alles tun, um ihre Macht zu verteidigen.”
„Sie meinen, sie wird mich umbringen?” Ich rang um meine Fassung. „Das ist doch lächerlich. Ich könnte nicht mal einer Fliege ernsthaft gefährlich werden. Und überhaupt, wie sollte ich – ”
„Keine Sorge.” Raymond musste meinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn in seinem Blick erkannte ich Mitleid. „Hier bist du sicher. Und wir werden alles daran setzen, dass das auch so bleibt.“
„Wir?” Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort auf meine Frage überhaupt hören wollte. Im Moment fühlte es sich an, als würde ich inmitten eines Tornados versuchen, ein Streichholz zu entflammen. Jede Antwort, die ich erhielt, wurde von einem ganzen Sturm weiterer Fragen ausgelöscht. Und nachdem ich Raymonds Blick bemerkte, wusste ich, dass es mit dieser Antwort nicht anders sein würde.
„Diese Tunnel sind der unterirdische Stützpunkt einer Rebellion.” In Raymonds Stimme hörte ich Stolz. „Wir sind aus der Not entstanden, die Morrigan über unser Land gebracht hat. Doch wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Hoffnung zu bewahren und die Ankunft des Retters vorzubereiten. Wir agieren bereits seit acht Jahren und haben seitdem mehr als zwanzigtausend Gleichgesinnte um uns scharen können.”
Ich war sprachlos. Jedes Mal, wenn ich dachte, meine Situation könnte kaum absurder werden, schaffte Raymond es, noch eine Schippe draufzulegen. Rebellen, die gegen ein grausames Regime kämpften – Himmel, hatte ich nicht langsam genug gehört?
„Ich weiß, auf dich muss das alles ziemlich befremdlich wirken”, schob Raymond in diesem Moment ein, „Auch für uns kamen die Neuigkeiten sehr überraschend. Die letzten Jahre waren nicht einfach. Allein die Prophezeiung hat uns die Kraft verliehen, Qualen und Entbehrungen im Angesicht der Hoffnung zu ertragen. Jetzt zu wissen, dass sich all unsere Arbeit auszahlt, dass sich die Prophezeiung tatsächlich erfüllen wird …”
Er verstummte und sah mich an. In seinem Blick lag etwas, das mich stutzen ließ.
„Moment.” Nur langsam sickerten Raymonds Worte in mein Bewusstsein. „Sie wollen doch nicht sagen … Ich meine, Sie denken doch nicht wirklich, dass ich – ”
Raymonds Lächeln verriet mir alles, was ich wissen musste. „Evangeline, du bist diejenige, auf die wir all diese Jahre gewartet haben. Du bist die Retterin, von der die Prophezeiung spricht.“
„Nein.” Ich schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich irren. Ich bin nicht – “
„Es fällt dir schwer, zu begreifen. Das ist nur verständlich.” Raymonds Lächeln war so zuversichtlich, dass mir übel wurde. „Niemand verlangt von dir, sofort eine Entscheidung zu treffen. Du solltest nur wissen, dass du uns vertrauen kannst. Du bist sicher bei uns.“
„Aber ich will doch überhaupt nicht – ” Ich beherrschte mich gerade noch. „Ich meine, ich will einfach nur nach Hause, verstehen Sie das?“
„Natürlich.” Raymond nickte. „Und ich würde dir liebend gern helfen, allerdings – “
„Allerdings was?”, bellte ich. Im Gegensatz zu Raymond war meine Geduld nach bösen Königinnen, seltsamen Kulten und ein paar Worten, die mich zur Befreierin eines ganzen Landes machen sollten, wirklich am Ende. „Bitte. Können Sie mir nicht einfach sagen, wie ich wieder zurückkomme? Ich wollte das hier alles nicht.“
„Das glaube ich dir.“ Raymond musterte mich lang. „Aber was ich eigentlich zu erklären versuche, ist, dass wir dir nicht helfen können. Die Portale, die einst unsere beiden Welten verbanden, sind schon vor Jahrhunderten geschlossen wurden. Niemand weiß mehr, wo sie sich befinden.“
„Aber irgendwie muss ich doch hergekommen sein.“ Ich warf die Hände in die Luft. „Es muss doch einen Weg geben, eine Verbindung, ein –“
„Es tut mir wirklich leid.“ Raymond entgegnete meinem Blick. „Doch um ehrlich zu sein, dürftest du nicht einmal hier sitzen. Seit Jahrhunderten ist kein Fall eines Weltenwanderers bekannt geworden. Allein deine Ankunft hier ist ein Mysterium.”
Ich schüttelte den Kopf. „Aber wenn ich hierher gekommen bin, müssen die Portale doch noch existieren? Wenn ich das Portal finden kann, durch das ich gekommen bin – ”
Der Ausdruck auf Raymonds Miene ließ mich innehalten.
„Es ist nicht so einfach.” Er faltete die Hände. „Mit der Schließung der Portale damals sind auch deren Wächter – die Feen – in Vergessenheit geraten. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten. Doch ohne Feenstaub ist es unmöglich, ein Portal zu öffnen – selbst, wenn es jemandem gelingen würde den Standort ausfindig zu machen.”
Er seufzte. „Ich will es nicht schwarzreden, Evangeline. Aber du solltest bedenken, dass in den hundert Jahren zuvor bereits unzählige Versuche unternommen wurden, die Feen zu finden und Portale zu öffnen. Falls es überhaupt noch Informationen zu diesem Thema gibt, dann höchstwahrscheinlich in der königlichen Bibliothek. Doch sich dort hineinzuwagen, würde für dich und die meisten von uns den Tod bedeuten.“
„Dann …” Ich schnappte nach Luft. In meinem Kopf drehte sich alles, während Raymonds Worte in einer Endlosschleife durch mein Gehör kreisten. Rotglühende Wut ballte meine Hände zu Fäusten, als mir bewusst wurde, wie geschickt er dieses Gespräch geplant haben musste. Wahrscheinlich hatte er sogar ein Skript geschrieben, um mir genau die Fakten einzutrichtern, die es benötigte, damit ich seinen Plänen bedingungslos folgte. Doch so einfach würde ich es ihm nicht machen.
„Dann behaupten Sie also, dass ich vorerst in dieser Welt festsitze?”, wiederholte ich langsam, „Und die beste und wahrscheinlich einzige Möglichkeit, einen Rückweg zu finden, liegt völlig außer Reichweite in Besitz der Königin. Ach, Moment, warten Sie – “ Wütend funkelte ich ihn an. „Es geht hier ja um dieselbe Königin, gegen die Sie und Ihre seltsamen Rebellen kämpfen. Warum sollte ich mich also nicht direkt anschließen? Ist es das, was Sie zu sagen versuchen? Dass ich mich entweder Ihnen anschließen oder in dieser Welt sterben kann? Sind das meine Optionen?“
Ich wandte den Blick nicht eine Sekunde von ihm, doch anstelle des erwarteten Protestes antwortete er nur mit beharrlichem Schweigen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er es nicht leugnen würde. Ich saß hier fest – ohne jegliche Chance auf einen Rückweg und er hatte nicht einmal den Anstand, es zu leugnen.
„Nein.” Ich weigerte mich zu glauben, dass es so sein konnte. Immerhin war ich in einem Land voller Magie gelandet – man hätte meinen sollen, das Wort unmöglich hatte hier aufgehört zu existieren. Es musste einen anderen Weg geben, eine andere Möglichkeit, die Raymond mir vorenthielt, um mich für seine Pläne zu gewinnen.
„Ich verstehe, dass das alles viel für dich ist“, versuchte er es in diesem Moment erneut, „Aber gerade deshalb muss ich dich bitten, keine überstürzten Entscheidungen zu treffen. Deine Ankunft hier ist ein Wunder und wenn die Götter dies für den richtigen Zeitpunkt erachten, dich zu uns – “
„Ach halten Sie den Mund!“ Ich sprang auf. „Ich will nichts mehr von Ihren Lügen hören! Sie können sich eine andere Retterin suchen!”
Wütend stürmte ich zur Tür und war bereits drauf und dran, sie aufzureißen, als Raymonds Arm mich zurückhielt.