Du bist seit einhundert Jahren die erste, die Ciaora betreten hat. Ich schnaubte. Und wenn schon, hieß das immer noch nicht, dass es meine Pflicht war, diesem abgedrehten Haufen in einem Mordkomplott gegen die böse Königin zu unterstützen.
Ich fegte um eine Ecke, dann um noch eine. Mein Blick raste die Wände entlang, immer auf der Suche nach etwas Vertrautem, doch da war nichts als Stein. Endloser Stein und Feuer , die mich im Vorhof der Hölle willkommen hießen. Ich rannte und rannte, bis mein Atem nur noch stoßweise ging und das Feuer der Fackeln auch in meinen Lungen brannte. Der Rauch ließ mich keuchen und husten, bis ich schließlich stolperte. Ich konnte mich gerade noch an einer der kalten Tunnelwände abfangen, bevor meine Beine nachgaben. Ein weiteres Mal sah ich mich um, doch auch jetzt konnte ich nicht den geringsten Hinweis auf ein Ende der Tunnel erkennen. Die steinernen Gänge schienen sich in einem Labyrinth endloser Kreuzungen und Schleifen zu verlieren.
Kraftlos sank ich zu Boden. Das war es. Ich konnte laufen, so weit ich wollte und würde mich doch immer nur im Kreis drehen. Ich war hier unten gefangen und wahrscheinlich würde ich verhungern, ehe ich allein einen Ausweg gefunden hatte. Ohne Hilfe war ich verloren und ich hasste Raymond und Rubina dafür, dass sie mir das angetan hatten.
Verzweifelt stützte ich den Kopf in die Hände. Mit einem Mal fühlte es sich an, als würde sich mein Leben in einer ständigen Abwärtsspirale bewegen. Zuerst die Halluzinationen, dann der Brief und der Tornado, die Bestie und jetzt das. Tränen brannten in meinen Augen und ich hatte nicht die Kraft, sie zurückzudrängen, als mich jemand am Arm berührte.
Unter verschleiertem Blick erkannte ich einen der Dunkelgekleideten, der mir auf die Beine half. Wortlos ließ ich zu, dass er mich auf die Füße stellte und langsam den Gang zurückführte, den ich gekommen war. Mein Instinkt rebellierte. Am liebsten hätte ich mich ein weiteres Mal losgerissen, doch mein Verstand sagte mir, dass es sinnlos war und mein Körper war so erschöpft, dass ich nicht wusste, woher ich die Kraft, erneut aufzubegehren, nehmen sollte. Als der Wächter schließlich innehielt und eine Tür öffnete, löste ich mich langsam aus seinem Griff und taumelte in den Raum. Das Klicken, mit dem die Tür ins Schloss fiel war kaum mehr als eine Bestätigung meiner ausweglosen Lage.
*****
Fest umklammerten meine Finger das Smartphone. Die Zeit war aus den Fugen geraten und es war mir egal. Sie mochte rasen oder zäh wie Karamellsirup durch die Ritzen dieses Raumes sickern, doch seit ich mit dem Rücken an die kalte Steinwand gelehnt auf der harten Pritsche hockte, hatte sie jede Bedeutung für mich verloren. Stunden oder Minuten hatte ich den kleinen Kasten aus Glas und Aluminium angestarrt und versucht, einen Silberstreif an meinem Horizont zu erkennen. Stattdessen hatte das schwarze Display mich nur daran erinnert, wie sehr ich meine Eltern vermisste. Wie gern ich ihre Stimmen hören und ihnen sagen würde, dass ich lebte. Wie viel ich darum geben würde, jetzt in einer tröstlichen Umarmung zu versinken.
Doch es waren nicht die Arme meiner Mutter, die mich umschlossen, sondern der harte Stein. Mit jedem Atemzug, den ich hier unten tat, schien die Decke des Raumes tiefer zu sinken. In meiner Vorstellung rückten die Wände näher und näher, bis der Druck auf meiner Brust unerträglich wurde und die Luft aus meinen Lungen wich.
Ich blinzelte und das Bild verschwand. Was blieb, war das allesverzehrende Gefühl der Einsamkeit. Innerhalb der letzten Stunden – des letzten Tages – hatte sich alles verändert. Und ich hatte nicht mehr die Kraft, mich all den Fragen zu widersetzen, die Raymonds Worte in mir aufgeworfen hatten.
Konnten er und der Frosch die Wahrheit gesagt haben? Und falls ja, was bedeutete es dann für mich? Was konnte ich von Raymond und diesen Rebellen erwarten? Und wie sollte ich es schaffen, die Tunnel zu verlassen, um mir ein eigenes Bild zu machen?
In Gedanken spulte ich unablässig den Nachmittag ab, der für all das verantwortlich war. Der sonderbare Junge mit dem leuchtend blonden Haar stand noch gestochen scharf in meiner Erinnerung, genau wie die Worte auf dem Briefpapier. Dann dieses Gewitter, der Tornado … und der Wolf.
Es war das erste Mal, dass ich wieder an ihn dachte. Ich sah ihn direkt vor mir, heulend im Auge des Sturms. Dinge flogen vorüber – Blätter vielleicht, oder nur Staubkörner, die der Wind aufgewirbelt hatte. Sie verwischten das Bild und die Gestalt des Wolfes verschwamm vor meinen Augen. Stattdessen nahm ich nun immer deutlicher den lilafarbenen Nebel wahr, zu dem der Tornado zerfiel. Seltsam schwer wallte er von der Kante der Pritsche und ließ eine kleine grüne Gestalt zurück.
Nur langsam klärten sich meine Gedanken. Der Frosch grinste überlegen zu mir herauf. „Glaubt Ihr mir jetzt, Mylady?”
Ich war zu perplex, als dass ich hätte antworten können. Sprachlos starrte ich zu ihm hinunter.
„Ich hatte schon fast erwartet, dass Ihr versuchen würdet, wegzulaufen”, sinnierte er auch völlig ohne mein Zutun, „Raymond hat einfach kein Talent, was menschlichen Umgang betrifft. Es wundert mich wirklich, wie er es bisher so weit gebracht hat.”
Noch immer brachte ich kein Wort zustande. Alles, was ich zu wissen geglaubt hatte, schien sich allein durch die Anwesenheit des Frosches in Asche und Rauch zu verwandeln. Zurück blieb nichts als seine Frage. Glaubte ich ihm?
„Ich kann einfach nicht fassen, dass es das sein soll“, murmelte ich irgendwann.
Wallace hob den Kopf und bedachte mich mit einem Blick, als hätte ich gerade einen schlechten Scherz gemacht. „Ihr sprecht mit mir, nicht wahr?”
Für einen Moment war ich verwirrt, nickte jedoch.
„Ihr sprecht mit einem sprechenden Frosch, Mylady.” Wallace’ Tonfall war belehrend. „Wenn ich mich nicht irre, ist das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Ihr entweder verrückt oder nicht länger in der Welt seid, die Ihr kennt. Wobei das eine das andere ja nicht ausschließen muss.”
Er grinste und ich presste die Kiefer zusammen, als mir klarwurde, worauf er hinauswollte. Dann musste ich wieder an den seltsamen Jungen denken und daran, wie er jedes einzelne Mal verschwunden war, bevor ich mich versichern konnte, dass er echt war. Doch vielleicht war genau das der Beweis, das ich mir alles nur einbildete. Wenn ich mir den Jungen eingebildet hatte, dann vielleicht auch den Brief und den Tornado und …
„Eines muss man Euch lassen, Mylady.” Als ich aufsah, hatte Wallace die breiten Froschlippen verzogen. „Stur seid Ihr.”
„Was geht Euch das an?”, entgegnete ich trotzig, „Vielleicht bin ich ja so verrückt, wie Ihr sagt. Vielleicht bin ich verrückt genug, mir einen ganzen Alptraum voller böser Königinnen und Bestien und sprechender Kröten auszudenken und Ihr habt nur Angst, dass ich aufwachen und Eure Existenz beenden könnte.”
Wallace zog eine seiner seltsam nackten Froschbrauen in die Höhe, sagte jedoch nichts. Es war auch nicht nötig – ich wusste ohne seine Bemerkungen, wie naiv ich klang. Wie ein Kind, das immer noch am Weihnachtsmann festhielt, obwohl es seine Geschenke bereits im Kleiderschrank der Mutter entdeckt hatte.
Ich schüttelte den Kopf. „Aber das ist unglaublich. Ich meine, angenommen, Ihr und Raymond … habt Recht …” Mir fiel es immer noch schwer, die Worte auch nur über die Lippen zu bringen. „Angenommen, ich bin in diesem Ciaora, würde das bedeuten, dass Magie existiert. All die Geschichten und Ammenmärchen, die man bei uns den kleinen Kindern erzählt, sollen mit einem Mal Wirklichkeit sein. Das kann ich nicht glauben.”
„Könnt Ihr es nicht?”, fragte Wallace forsch, „Oder wollt Ihr es nicht?”
Er machte eine Pause und sah mich eindringlich an. Ich ahnte bereits, was folgen würde und meine Schultern sanken beim Gedanken daran.
„Wenn Ihr mich fragt, dann ist es nicht der Fakt, dass Magie existieren könnte, der Euch Sorgen bereitet. Der Grund, aus dem Ihr so verzweifelt nach einer anderen Erklärung sucht, ist vielmehr der, dass Ihr noch immer daran festhaltet, es