»Keine Sorge, in ein paar Tagen wirst du sie nicht mehr vermissen.« Gott warf sich eine weitere Traube in den Mund. Er klang nicht so, als würde er irgendwie Anteil nehmen, an wie viel auch immer genau in Jonas’ Gesicht geschrieben stand.
Das war allerdings nur der halbe Grund, warum er auch dazu nichts sagte, sondern Gott nur ziemlich finster ansah. Was meinte er mit er würde sie nicht mehr vermissen?
Ein mehr als unangenehmes Ziehen in der Muskulatur rund um die Verletzung lenkte seine Gedanken auf den wichtigsten Punkt, den Grund, warum er hier war. Er stemmte den linken Arm mit der Hand aufs Knie, um seinen Bauch zu entlasten und zumindest für den Moment zu verhindern, dass sein Oberkörper noch mehr zusammensank.
»Was ist mit J?«, fragte er geradeheraus und konnte die Abneigung nicht aus seiner Stimme heraushalten. »Ist er hier?«
Gott sah ihn überrascht an, fast schon ein wenig perplex, dann lachte er auf einmal, humorlos und kurz. »Warum sollte er?«
»Heißt es nicht, er wäre aufgefahren in den Himmel und sitze zur Rechten seines Vaters?«, erwiderte Jonas schlagfertig und stutzte in der nächsten Sekunde. Irgendetwas an seinen eigenen Worten löste einen seltsamen Widerhall in ihm aus – was hatte Mikha, Michael, doch gleich zu J gesagt?
Er strengte sein Gedächtnis an, aber er kam einfach nicht darauf, und so blieb ihm nur das unheilvolle Gefühl, dass es von Bedeutung sein musste. Genau wie die Tatsache, dass er Gottes Stimme irgendwoher kannte.
Misstrauisch musterte Jonas ihn und versuchte nun, sich daran zu erinnern, doch es wollte ihm genauso wenig gelingen. Es stand außer Frage, dass es nicht an dem Umstand lag, dass es eben Gott war und allein seine Stimme eine ähnliche Erkenntniswirkung besaß wie sein Anblick, oder dass er Jonas gar irgendwann in seinem Leben auf spirituelle Weise etwas in den Kopf geflüstert hatte, sondern er hatte sie genau so gehört, wie er es jetzt, in diesem Gespräch, tat. Und er hatte das untrügliche Gefühl, dass es gar nicht einmal so lange her war.
Gott verzog seinerseits zynisch den Mund, erachtete die nächste Traube zwischen seinen Fingern nicht als würdig und ließ sie achtlos in die Schale zurückfallen, um darin herum zu wühlen und eine bessere zu finden. Er gab dabei eine Mischung aus einem Schnauben und einem abfälligen Laut von sich.
»Die Bibel ist alt«, meinte er geringschätzig. »Dinge verändern sich. Es gibt keinen Himmel mehr.« Er streckte sich erneut zum Tisch und warf die Schale mit einer energischen Bewegung regelrecht darauf, dass sie mit einem lauten Klirren gegen die anderen stieß.
»Was soll das heißen?«, fragte Jonas irritiert. Er beachtete die grobe Behandlung des vermutlich wertvollen Porzellans nicht sonderlich, dafür war er viel zu verwirrt, registrierte es unterbewusst jedoch genauso aufmerksam wie das Lachen. »Ist das hier nicht der Himmel?« Er machte eine ansatzweise Geste mit der freien Hand.
»Kein Mensch kam jemals in den Himmel«, versetzte Gott geradezu und stach mit scharfem Blick nach ihm. Er drapierte erneut sein Obergewand und nahm sich sichtlich zurück. »Er war nicht zu erreichen für niedere Kreaturen.«
Niedere Kreaturen. Nicht nur Jonas’ Misstrauen wuchs obgleich Gottes verdächtiger Reaktionen, sondern auch seine Antipathie.
Vergleichst du mich etwa mit diesem Wurm?
Antipathie war nicht ganz das richtige Wort, es kam vielmehr allmählich Verachtung in ihm auf. Ja, J war eindeutig mit seinem Gegenüber verwandt.
Gott breitete die Hände aus und blickte nach oben, ohne den Kopf zu heben, so dass es den Geschmack eines herablassenden Augenverdrehens bekam.
»Wir befinden uns in Eden«, sagte er im selben verhalten genervten Ton, mit dem Jonas’ Physiklehrer notgedrungen eine Erklärung wiederholte. »Hier wurdet ihr Menschen erschaffen und hierher kehrt ihr zurück, wenn eure irdische Form nicht mehr hält.«
Jonas konnte nicht behaupten, dass er das zweifelsfrei verstand, aber er hatte auch kein Interesse daran, es restlos zu klären. Eden, Gott, das war ihm alles ein bisschen zu …
»Kann ich wenigstens kurz mit Laori sprechen?«, hakte er nach. Sie von jetzt auf nachher nicht wiederzusehen, stieß ihm nicht nur um seiner selbst Willen auf, er wollte sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Es war ihr bestimmt nicht leicht gefallen, auf J zu schießen, und sie hatte auch nicht so gewirkt, als hätten Jonas’ Vorwürfe zuvor ihr nicht zu denken gegeben.
»Ich sagte doch schon, sie hat keine Zeit.« Gott war geradezu aufgebracht und gab sich keine Mühe, das irgendwie zu verhehlen. Wenn der düstere Unterton Jonas jedoch beeindrucken oder gar einschüchtern sollte, lag er ganz schön daneben. Der reagierte nicht nur auf blasierte Erniedrigungsversuche allergisch, sondern auch auf lediglich autoritätsgestütze Zurechtweisungen. Wie oft hatte er Erzieher mit unberührtem Schweigen dafür bestraft und wie schnell geriet er im Grunde immer mit Army Barny aneinander.
»Du wirst demnächst selbst zu beschäftigt sein, um auch nur einen Gedanken an sie zu vergeuden«, fuhr Gott fort und traf damit noch eine ganz andere, trotzige Ader. »Sobald du genesen bist, beginnt die Kampfausbildung.«
»Was für eine Kampfausbildung?«, wollte Jonas wissen. Allein bei dem Wort bekam er ein irgendwie mulmiges Gefühl.
Gott sah ihn empört und ärgerlich zugleich an, als hätte er ihn ganz offen und direkt beleidigt, nahm dann die Beine von der Chaiselongue und setzte sich so stockgerade hin, als hätte er unbemerkt einen Besenstiel verschluckt.
»Es gibt Krieg, Junge«, sagte er in einer Mischung aus sachlichem Ernst und unfreundlicher Herablassung. »Die erste Schlacht wird sehr bald geschlagen, endlich, und du wirst darin kämpfen. Das hat Laori dir doch erzählt.«
Jonas sah ihn nur mit leisem Zweifel an. Er wollte etwas antworten, aber die Müdigkeit und Schwäche ließen sich nicht länger zurückdrängen. Seine Glieder und allem voran die Augenlider schienen mittlerweile Tonnen zu wiegen, und seine Konzentrationsfähigkeit nahm rapide ab. Er spürte seinen Herzschlag, in seinem Magen wurde es fahl, und in seinem Kopf begann kantige Schwärze nach seinen Sinnen zu schnappen.
Von den Schmerzen ganz zu schweigen. Inzwischen wühlte es in der Verletzung, als würde jede einzelne Zelle sich in einem wütenden Gedränge befinden, seine ganze Körperwärme schien sich dort zusammenzusammeln, und jeder Muskelstrang in der unmittelbaren Umgebung war mittlerweile vollkommen verkrampft. Wäre eines von Suzanns Fläschchen auf dem Tisch vor ihm gestanden, er hätte nicht mehr gezögert, das ominöse Schmerzmittel zu nehmen, und schalt sich selbst einen machohaften Dummkopf.
Gottes Worte lösten daher nur eine stark gedämpfte Reaktion in ihm aus, die er auch gedanklich mehr schlecht als recht fassen und weiterverfolgen konnte. Krieg, Schlacht, kämpfen … Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich nach wie vor darüber zu wundern, ob das wirklich passierte.
»Du siehst sehr erschöpft aus«, stellte Gott fest. Es war allerdings kein Entgegenkommen oder gar sorgenvolles Bedenken, sondern sein bestimmter Ton machte klar, dass er diese Tatsache nur dazu benutzte, das Gespräch zu beenden.
Er fügte auch nichts weiter hinzu, sondern hob etwas vom Boden zwischen der Chaiselongue und dem Tisch, das zwar glänzend poliert, mit verschlungenen Linien graviert und zahlreichen kleinen, funkelnden Edelsteinen besetzt, nichtsdestotrotz aber nichts anderes war als eine überdimensionale Kuhglocke. Mit ausgestrecktem Arm hielt er sie hoch und läutete im nächsten Moment auch schon heftig.
Das Geräusch musste laut sein, doch Jonas nahm es kaum war, denn Schwindel und schwarze Schleier überfielen ihn. Er bekam nur bruchstückhaft mit, wie Gott aufstand und dann aus seinem Blickfeld verschwunden war, ein paar anstrengende Atemzüge später Suzann bei ihm auftauchte und aufgescheucht irgendetwas zu ihm sagte, und er schließlich einfach bewusstlos wurde und seitlich vom Stuhl kippte.
Hexenküche …
Er schien eine Ewigkeit zu schlafen, und als er aufwachte, fühlte er sich frisch und erholt wie lange nicht mehr. Zumindest die ersten paar Minuten, die er dazu