„Kommt mit, ich möchte euch jetzt etwas zeigen.“
Er nahm eine der Fackeln von der Wand, führte sie aus dem Raum durch dunkle Gänge und eine gewundene, steile Treppe hinauf. In einem engen Korridor blieb er vor einer kleinen Tür stehen.
„Ich komme nicht mehr oft hier herauf, war wohl das letzte Mal vor Jahren hier, aber als ich dich sah, kleines Mädchen, fiel es mir sofort wieder ein. Ich möchte, das du es dir ansiehst.“
Damit schloss er die Tür auf und trat gebückt ein. Nachdem ein kleines Feuer im Kamin brannte sahen sich beide neugierig in der engen Kammer um. Sie stand voller alter Möbel, alter Gemälde, kaputtem Spielzeug, alten Kleidern und ähnlichem. Eben all den Sachen, die man irgendwann als überflüssig befunden und hier heraufgebracht hatte. Der Dragon ging zu einer der hinteren Ecken und zog einen großen, mit einem alten Tuch verhüllten Gegenstand hervor. Allem Anschein nach handelte es sich dabei um ein großes Bild.
„Komm, mein Kind, setz dich ans Feuer,“ bat er sie, und als sie saß stellte er es vor ihr nieder.
„Raven, ich sagte dir ich hätte diese Augen schon einmal gesehen. Ich war damals noch ein Knabe und spielte allein am Wald oben auf den Klippen, als eines dieser Wesen aus ihm hervortrat. Ich sah sie nur kurz, denn sie sind auch uns gegenüber sehr scheu. Dieses Bild ist aus meiner Erinnerung entstanden und ich sah nie wieder ein Wesen wie sie. Doch du, mein Kind, du hast ihre Augen.“ Danach zog er langsam das schmutzige Tuch fort.
Alina sah neugierig auf das langsam enthüllte Bild und blickte schließlich erstaunt in das schöne Anglitz ihrer Mutter. Der Dragon besah sich sehr genau ihre Reaktion und bemerkte bei ihr einen Ausdruck des Erkennens und des Schmerzes. Ja, sie kannte solche Wesen. War vielleicht sogar unter ihnen Aufgewachsen. Doch wie nahe er mit seiner Vermutung der Wahrheit kam, sollte er jetzt noch nicht erfahren. Auch Raven betrachtete das ungewöhnlich schöne Bild, doch auch ihm entging Alinas Blick nicht.
Das Bild war sehr gelungen und ausdrucksstark. Es zeigte ihnen den Waldrand mit der Wiese davor, so wie der Knabe sie einst sah. Auf der Wiese stand eine vom Sonnenschein umspielte, prachtvolle, leuchtend weiße Stute, auf deren Stirn ein kurzes, goldenes Horn prangte. Ihre lange, weiße Mähne wehte in einer ewigen Briese und ihre sonderbar blaugrün gefärbten Augen blickten ihnen voller Stolz und Erhabenheit aus dem Bild entgegen. Jetzt erst bemerkte Alina ihren Irrtum, dies war nicht ihre Mutter, aber zweifellos eine Schwester aus deren Volk. Mit Tränen in den Augen berührte sie ganz zart den gemalten Kopf des Einhorns und fragte sich wieder, warum Mutter sie verlassen hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte lautlos auf. Sofort war Raven bei ihr und schloss sie fest in die Arme.
„Warum tust du das, Dragon, warum quälst du sie so?“ Raven sah aufgebracht zum Älteren auf, doch dieser ignorierte ihn und wandte sich stattdessen an Alina.
„Es gibt eine alte Legende in der von einem Kind erzählt wird, einem kleinen, weißen Mädchen, das unter den Gehörnten aufwächst und später zur Führerin der Völker wird. Bist du dieses Kind?“ Er beugte sich zu beiden nieder, hob ihr Gesicht und sah ihr dann tief in die leuchtenden Augen, „ich muss es wissen, bist du dieses Mädchen?“ Sie sah wütend und mit tränennassem Gesicht zu ihm auf. Erst Mutter, dann der alte Drache und jetzt auch noch der Dragon. Alle erzählten ihr immer das gleiche, ob sie es hören wollte oder nicht. Warum sie? Sie verstand es nicht und auch wenn ihr Herz ihr sagte, das es alles stimmte, auch wenn sie tief in sich fühlte, dass sie alle recht hatten, gefiel es ihr nicht. Sie riss sich heftig von Raven los und stürzte aus der Kammer.
Sie floh durch die dunklen Gänge, fort von den Legenden, fort von ihrer Aufgabe, dem Versprechen, das sie ihrer Mutter einst gab, fort von alle dem. Verzweifelt fragte sie sich warum, warum sie, warum konnte sie nicht leben wie alle anderen auch, in Frieden und Glück? Wer hatte sie zur Führerin der Völker erkoren und immer wieder warum, warum. Sie liebte Raven, das wusste sie jetzt ganz tief in ihrem Herzen, doch durfte sie jemals mit ihm in Frieden leben, durfte sie jemals
mit ihm Glücklich sein? Sie bezweifelte dies und rannte weinend weiter durch die dunklen Flure. Schließlich erreichte sie atemlos ihre gemeinsamen Räume, durchquerte sie erschöpft und ließ sich müde und immer noch schluchzend auf das große Bett fallen. Raven traf kurze Zeit nach ihr ein und legte sich gleich ruhig zu ihr.
„Ist es wahr?“ Sie sah zu ihm auf und es lag soviel Qual, soviel Verzweiflung in ihrem Blick, das er spürte, irgendwie einfach wusste, das es stimmte. Seufzend zog er sie an sich, und sie barg ihren kleinen Kopf an seine Brust und weinte still weiter.
„Gut, du bist also die Führerin, du bist das Kind der alten Völker, das Kind des Lichtes. Aber welche Legende, welcher Zauber, welche Aufgabe soll uns je trennen können? Nichts und niemand wird uns daran hindern können, zusammen zu bleiben.“ Er streichelte ihr langsam und versonnen über das lange, weiche Haar.
„Du wirst mich zu meinem Reich begleiten und alle, die dir folgen, werden dort auch mit Freude aufgenommen. Dort wird für alle ein Platz zum Leben sein.“ Sie sah ihn nicht mehr ganz so verzweifelt an, doch immer noch glitzerten Tränen in ihren Augen.
„Ein Platz ohne Menschen.“
Neue Feinde
Sonja war am nächsten Morgen sehr beunruhigt und nach dem gemeinsamen Frühstück in der großen Halle trat sie zu Alina und schaute diese besorgt an.
„Der Dragon hat mir alles, was gestern abend geschehen ist, erzählt und ich habe ihn verflucht dafür,“ sie nahm Alina in ihre Arme, „es tut mir leid das du darüber so außer dir warst. Männer sind Trampel und besitzen die Mäuler von Rindern, entweder sie mahlen mit dem Gebiss oder sie brüllen nur dumm rum.“ Sie hielt Alina etwas von sich ab und lächelte jetzt.
„Komm, mein Schatz, du brauchst neue Kleidung,“ sagte sie wieder verschmitzt, „ich habe zwar fast nur Söhne, aber wir werden schon etwas Passendes für dich finden.“
Alina freute sich ehrlich und folgte Sonja gern durch das große, helle Schloss. Bei den privaten Gemächern blieb Sonja stehen und meinte nur kurz,
„Warte hier einen Augenblick auf mich, ich möchte noch einmal zu Sassa schauen.“ Damit betrat die große Frau einen der Räume und Alina schlich nach einiger Zeit leise näher und spähte durch die halb geöffnete Tür neugierig ins Innere des Raumes. Dieser Raum war zweifellos ein Kinderzimmer, liebevoll und hübsch Eingerichtet und dennoch spürte Alina, dass hier jetzt Dunkelheit herrschte. Langsam und still betrat sie das Zimmer und schaute sich zögernd um. Im angrenzendem Raum, dem Schlafzimmer der Kleinen, vernahm sie leise Stimmen und sie ging langsam näher.
„Samara, wie geht es ihr?“ Hörte sie Sonja grade sagen.
„Nicht besser, Mutter, ich fürchte das Fieber wird bis zum Abend noch höher,“ antwortete eine junge, sanfte Stimme und Alina betrat zögernd den sonst stillen Raum. Beide Frauen blickten sich zu ihr um, und wenn Alina jetzt nicht wüsste, dass diese Mutter und Tochter waren, würde sie beide für Schwestern halten, sosehr ähnelten sie sich. Doch strahlte Samara noch die Wildheit der Jugend aus, während ihre Mutter mehr in sich ruhte.
„Samara, das ist die Gefährtin von Raven,“ meinte Sonja ruhig, „und dies ist Samara, meine älteste Tochter.“ Beide nickten sich nur kurz zu.
„Wir waren gestern in der Halle nicht anwesend, weil Sassa, meine Kleinste, im Fieber liegt und wir bei ihr gewacht haben. Mögen die Götter diesen Fluch von ihr nehmen.“ Sonjas Blick wandte sich wieder traurig ihrer kleinen Tochter zu, die unter Fellen begraben in dem viel zu großen Bett lag. Alina ging langsam näher und betrachtete das kleine Wesen unter den Decken. Sie war nicht älter als drei Sommer. Ihre kurzen, blonden Locken klebten an ihrer feuchten Stirn und ihre kleinen, pummeligen Wangen glühten im Fieber. Die Augen wie im ewigen Schlaf geschlossen, ließ nur das sanfte heben und senken