Die Tränen der Waidami. Klara Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klara Chilla
Издательство: Bookwire
Серия: Die Piraten der Waidami
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742748058
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er sich durchaus im Klaren war. Tirado hatte nicht die geringste Ahnung, ob dieser Mann ihn seinerseits als Freund betrachtete. Aber wenn er die letzten Begegnungen mit ihm Revue passieren ließ und den vergangenen Tag, dann hatte er daran keinen Zweifel. Jess Morgan hatte ihm die Reste der Silberflotte zurückgebracht und die Schiffe mit den versprochenen Schätzen als Entlohnung waren noch während des Abendessens im Hafen eingelaufen. Noch immer musste Cristobal darüber staunen, wie viele Schätze diese Piraten im Laufe ihrer Karriere gehortet haben mussten. Zwei Schiffe der Silberflotte waren randvoll mit den unglaublichsten Schätzen zurückgekehrt. Natürlich war nicht zu übersehen gewesen, dass die Mehrzahl davon ohnehin nur zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgebracht wurde. Fast hätte er geschmunzelt, wenn er nicht dem aufmerksamen Blick Morgans begegnet wäre, der ihn nicht aus den Augen ließ. Plötzlich verzog sich Morgans Gesicht zu einem breiten Grinsen.

      »Verzeiht, wenn es so scheint, als würde ich mich über Euch amüsieren, Señor Gouverneur. Aber ich komme nicht umhin festzustellen, dass Ihr eine ungewöhnliche Anspannung ausstrahlt.« Jess lächelte ihn an, dann lehnte er sich entspannt zurück und schlug seine langen Beine übereinander.

      Tirado nickte.

      »Ihr verfügt in der Tat über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe.« Tirado stand auf und schüttelte abwehrend den Kopf, als Jess sich ebenfalls erheben wollte. »Bitte bleibt sitzen, aber erlaubt mir zu holen, was diese Anspannung auslöst.«

      Der Pirat nickte seinerseits und beobachtete, wie der Gouverneur wieder in den Speiseraum trat, die Schatulle an sich nahm und zurück auf die Terrasse trug. Behutsam stellte Tirado seine Fracht auf dem Tisch ab. Jess Morgan hob fragend eine Augenbraue und betrachtete ihn wortlos.

      »Kurz nachdem Ihr mit der Silberflotte den Hafen von Cartagena verlassen habt, hatte ich, wie Ihr ja bereits wisst, Besuch von Eurer reizenden Navigatorin, die mich um Hilfe bat. – Was Ihr nicht wisst, ist, dass ich noch weiteren Besuch erhielt, kaum dass Lanea den Palast verlassen hatte.« Tirado machte eine Pause, in der er aufmerksam Jess beobachtete. Doch dieser saß völlig entspannt da, lediglich das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Es handelte sich um einen Seher, und er behauptete, er wäre ein Freund von Euch.«

      Der gelassene Ausdruck im Gesicht des Piraten wich, und blankes Misstrauen trat in seine Augen. Er saß weiterhin regungslos da, doch Tirado hatte auch bemerkt, wie eine kaum sichtbare Anspannung durch seinen Körper lief. Das Raubtier in diesem Mann witterte Gefahr und vermittelte nun den Eindruck, jederzeit zum Angriff übergehen zu können.

      »Er hat sich nur kurz hier aufgehalten und stellte sich als ein Freund Tamakas vor. Durch den vorhergehenden Besuch Laneas war mir dieser Name nicht unbekannt. Sie hatte mir erzählt, dass er ihr Vater gewesen war, und dass er sein Leben dabei verlor, für Euch den Dolch der Thethepel zu stehlen. Da die Bitte, die er an mich richtete, mir von harmloser Natur erschien, sah ich keinen Grund dafür, in ihm eine Gefahr zu sehen. Er übergab mir eine schlichte Schriftrolle, die ich allein an Euch weiterreichen sollte, nachdem Ihr von der Schlacht zurückgekehrt seid. – Der Mann legte größten Wert darauf, dass Ihr diese nicht erhaltet, solange Eure Begleiterin zugegen ist.«

      Tirado öffnete den Deckel der Schatulle und hob eine Pergamentrolle heraus, die mit einem roten Siegel verschlossen war. Mit einem unbestimmten Gefühl reichte er die Rolle Jess Morgan. Der Pirat verzog unwillig das Gesicht, als er zögernd danach griff und sie argwöhnisch in der Hand wog.

      »Ich werde mich zurückziehen, damit Ihr in Ruhe den Inhalt der Nachricht studieren könnt.« Tirado klappte den Deckel der Schatulle mit einem dumpfen Geräusch zu und wollte sich zum Gehen wenden.

      »Bleibt!« Die Stimme Morgans hatte einen scharfen Unterton, und Tirado blieb überrascht stehen. »Bitte!«, fügte Jess Morgan besänftigend hinzu. »Leistet mir Gesellschaft. Ich werde einen Freund an meiner Seite zu schätzen wissen.«

      Tirado nickte und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Gespannt setzte er sich und wartete ab. Zu seinem Erstaunen war es diesmal der Pirat, der verunsichert wirkte, als er das Siegel brach. Die Rolle öffnete sich mit einem leisen Knistern, und er sah Schriftzeichen, die er nicht kannte und für ihn in dieser seltsamen Anordnung auch keinen Sinn ergaben. Jess‘ Augen hingegen schienen mühelos über die Schrift zu fliegen und dem Sinn zu folgen, der in ihnen verborgen lag. Tirado lief ein Schauer über den Rücken, als er die Veränderung sah, die sich bei seinem Gegenüber zeigte.

      Er hatte es schon zuvor bemerkt, dass die Farbe von Jess’ Augen einem gewissen Stimmungswechsel unterlag. Doch jetzt war nicht zu übersehen, wie sehr sie einem Barometer für die innerliche Verfassung des Piraten glichen. Äußerlich machte Jess den Eindruck, als würde er irgendein nichtssagendes Pergament lesen. Doch der ursprüngliche warme Blauton wechselte innerhalb von Bruchteilen eines Atemzuges über Eisblau in Sturmgrau. Nach einer scheinbaren Ewigkeit ließ Jess die Pergamentrolle mit einer mühsam beherrschten Bewegung sinken und legte sie neben sich auf den kleinen Tisch. Das Gesicht war eine einzige Maske und offenbarte nicht das Geringste, was in dem Mann vorging. Sein Blick war in den Garten gerichtet, der sich im Schatten der Nacht verborgen hielt. Trotzdem lag die Anspannung greifbar in der Luft, als hätte sich ein Moskitoschwarm über die beiden Männer gelegt. Tirado widerstand nur mühsam seiner Neugierde. Wie konnte ein einfaches Schriftstück einen Mann wie Jess Morgan so an den Rand seiner Fassung bringen. Hatte er doch einen Fehler begangen und den Seher unterschätzt?

      Jess Morgan stand mit einer müden Bewegung auf und unterbrach den Gedankengang Tirados. Mit schweren Schritten ging er über das im Mondlicht verblasste Mosaik auf die Stufen zu, die in den Garten führten. Dort verharrte er und wirkte plötzlich unentschlossen.

      »Jess?«, fragte Tirado besorgt.

      »Nicht!« Morgan schüttelte abwehrend den Kopf. Dann wischte er sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht. Sein Atem ging schwer, und Tirado konnte jeden Zug hören, mit dem er neue Luft in seine Lungen sog.

      »Verzeiht meine Aufdringlichkeit, Jess. Aber offensichtlich gibt der Inhalt dieses Schriftstückes Euch Anlass zur Beunruhigung. Wenn es etwas gibt, mit dem ich Euch zur Seite stehen kann, dann bitte ich Euch, zögert nicht und …«

      »Nein!« Jess fiel Tirado harsch ins Wort und blickte ihn verschlossen an. Der Sturm in seinen Augen war abgeklungen und hatte eisiger Ruhe Platz gemacht. »Es gibt nichts, mit dem Ihr mir noch zur Seite stehen könntet.«

      »Dann sagt mir, was in dem Pergament geschrieben steht!«, entgegnete Tirado eindringlich.

      »Dass nur ein Narr daran glaubt, dass wir einen Sieg errungen hätten und dass Menschen wie ich ihr Leben ändern könnten.« Jess lachte bitter. »Verzeiht mir, Tirado. Aber ich denke, es ist besser, wenn ich mich jetzt zurückziehe.«

      Jess verbeugte sich leicht. Tirado bemerkte irritiert, wie verletzt sein Gegenüber plötzlich wirkte, und nickte besorgt.

      »Natürlich. Geht und überdenkt die Nachricht in Ruhe. Mein Angebot bleibt bestehen.«

      Besorgt verfolgte er, wie Jess zurück in den Palast ging. Seine Schritte hallten seltsam einsam über den steinernen Boden und waren noch zu hören, als er längst dem Blick Tirados entschwunden war.

      *

      Jess fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Seine Füße trugen ihn fort von Tirado, der ihn genauso verständnislos angesehen hatte, wie er sich selbst fühlte. Hatte er wirklich geglaubt, dass es so einfach werden würde? Ja, er hatte die Treasure zurück, doch Bairani lebte und die ständige Bedrohung durch ihn bestand weiterhin. Bestand für alles, was er sich erhoffte und ersehnte; bestand für jeden, der ihm etwas bedeutete und den er liebte. Bairani würde nicht ruhen, bis er ihn hatte. Es gab keine Atempause, in der er sich gemütlich zurücklehnen und den kleinen Sieg genießen konnte. Die Schriftrolle war unmissverständlich gewesen. Es blieb ihm keine Zeit!

      Jetzt!

      Jetzt und nicht später!

      Noch nicht einmal in zwei Tagen musste er weitermachen. Bairani lauerte in den Weiten der karibischen See und schmiedete seine Pläne. Jeder Tag war ein Tag mehr, an dem der Oberste Seher an seiner Macht arbeiten konnte.

      Jess blieb stehen und atmete tief ein. Er konnte es ja kaum selbst glauben. Wie sehr hatte er Tamaka auf