Die Tränen der Waidami. Klara Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klara Chilla
Издательство: Bookwire
Серия: Die Piraten der Waidami
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742748058
Скачать книгу
sah er wieder auf Shamila, die nur noch wenige Schritte entfernt war. Einerseits verspürte er das Verlangen, ihre Zukunft zu betrachten, doch andererseits widerstrebte ihm dies zutiefst. Er wollte sie nicht auf diese Weise erkunden. Das Eindringen in ihr Schicksal glich dem Eindringen in einen intimen Bereich, als würde er sie auf eine Weise entblößen, die ihm so nicht zustand.

      »Merka«, sagte Shamila, als sie die beiden erreichte, und lächelte die alte Frau erleichtert an, während sie ihm nur ein kurzes Kopfnicken schenkte. »Torek«

      Ihre Stimme löste eine Gänsehaut auf seinem Rücken aus, auch wenn sie ihre Aufmerksamkeit ganz Merka schenkte. »Nuri braucht dich. Es ist so weit. Das Baby kommt.«

      Die alte Frau schien in ihrer Gestalt zusammenzuschrumpfen, während sie mit plötzlich zitternden Fingern nach dem Arm Shamilas griff, um sich dort Halt zu suchen.

      »Dann lass uns keine Zeit verschwenden, mein liebes Kind«, sagte sie und wackelte mit dem Kopf, wie es alte Frauen oft taten. »Bring mich zu Nuri.«

      Nachdenklich schaute Torek den beiden Frauen nach, bis sie verschwunden waren. Trotzdem Merka ein unbehagliches Gefühl in ihm hervorgerufen hatte, lag sein Herz federleicht in seiner Brust. Eine Eigenschaft, die jeder Begegnung mit Shamila innewohnte, auch wenn sie noch so flüchtig war.

      *

      Am Morgen des vierten Tages segelte die Monsoon Treasure in großem Abstand, gefolgt von den spanischen Schiffen, in den Hafen von Cartagena.

      Noch während sie mit dem Anlegemanöver beschäftigt waren, ritten bewaffnete Wachen vor die Pier, in deren Begleitung sich eine schwarze Kalesche befand. Ein Diener sprang eilfertig vom Kutschbock, um den Wagenschlag zu öffnen. Bevor dieser danach greifen konnte, öffnete sich die Tür und die schlanke Gestalt von Christobal Tirado y Martinez schob sich hinaus.

      Jess nickte dem Gouverneur zu, als ihre Blicke sich trafen. Auch ohne in die Strömungen des Spaniers zu tauchen, war die Ungeduld in seinen Augen unübersehbar. Da die Treasure das erste Schiff war, das zurückkehrte, hatte Tirado noch keinerlei Informationen darüber, wie die Schlacht verlaufen war. Auch wenn er sich zumindest Teile selbst zusammenreimen konnte, da die Treasure unübersehbar wieder in Jess’ Besitz war.

      Tirado schritt geradewegs auf das Schiff zu, dessen Laufplanke gerade von Dan und Sam ausgebracht wurde. Bevor er das Deck betrat, blieb der Gouverneur stehen und sah abwartend zu Jess.

      »Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Señor Gouverneur«, begrüßte ihn dieser und machte eine einladende Geste mit dem Arm.

      »Wie ich sehe, ist das Unternehmen von Erfolg gekrönt. Ich freue mich, Euch wohlbehalten in Cartagena willkommen heißen zu dürfen, Capitan Morgan«, entgegnete der Spanier und warf dabei einen interessierten Blick auf den offenen Hemdausschnitt von Jess, »und vollständig, wie ich sehe. Ich brenne darauf, jede Einzelheit zu erfahren.«

      »Ich werde Euch gerne einen umfassenden Bericht erstatten. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.« Jess wandte sich um und ging dem Gouverneur voraus. In seiner Kajüte deutete er auf einen Stuhl. »Bitte nehmt Platz.«

      Tirado ließ einen Moment den Blick neugierig über die Einrichtung wandern, bevor er sich an den großen Kartentisch setzte. Jess beobachtete ihn, während er ein Kristallglas mit schwerem Rotwein füllte und sich selbst Frischwasser einschenkte.

      »Lasst uns nicht um den heißen Brei herumreden, Capitan. Stillt meine Neugierde: Wie groß sind unsere Verluste?« Ohne Umschweife kam der Spanier auf den Grund seines Erscheinens zu sprechen. Jess hätte es auch gewundert, wenn dieser Mann anders vorgegangen wäre. Bei ihren letzten Begegnungen war er stets direkt gewesen und hatte sich nicht hinter Floskeln verborgen. Jetzt sah er Jess besorgt an, während er das Glas unbeachtet an die Seite schob.

      »Sechs Schiffe sind gesunken, drei manövrierunfähig. Die genaue Zahl an Verlusten unter den Männern sowie die Schäden an den Schiffen wollte Admiral Gonzalez Euch selbst überbringen. Ich fürchte jedoch, dass die Anzahl nicht so gering ist, wie ich es gerne gehabt hätte.«

      Die braunen Augen des Gouverneurs musterten ihn ernst. Seine Hand strich beiläufig über die Karte, die vor ihm ausgebreitet lag und den Ausschnitt mit dem Barriereriff zeigte, wo die Schlacht stattgefunden hatte. Ein unberührter Fleck auf der Karte, der keinen Hinweis auf das Blutvergießen gab, das dort stattgefunden hatte.

      »Die Waidami?«

      »Neun Schiffe versenkt, acht Schiffen gelang die Flucht.«

      Tirados rechte Augenbraue wanderte in einer steilen Kurve nach oben. »So viele?«, fragte er verwundert. Dann nickte er, wie zu sich selbst. »Bitte, Capitan, fahrt fort und schildert mir, was sich zugetragen hat.«

      Während Jess den Verlauf der Schlacht schilderte, schwieg Tirado, ließ ihn aber keinen Moment dabei aus den Augen. Als er von der Begegnung und dem Kampf mit McDermott berichtete, runzelte sich die glatte Stirn des Spaniers, doch er schwieg weiterhin geduldig, bis Jess seinen Bericht beendete.

      Für einige Augenblicke herrschte Stille in dem großen Raum. Jess, der bis jetzt gestanden hatte, trat auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und warf einen Blick durch das Fenster hinaus. Inzwischen hatten sich mehrere der spanischen Segelschiffe zu ihnen gesellt und lagen dicht bei der Treasure vor Anker. Ein friedliches Bild. Dennoch war Jess durchaus bewusst, dass Admiral Gonzalez die Ankerplätze der Schiffe nicht zufällig gewählt hatte. Unauffällig hatte man ihn in die Mitte genommen. Der Mann traute ihm nicht, gleich, was sein Gouverneur auch von ihm halten mochte. Er blieb der Pirat, den man im Auge behalten musste oder besser noch direkt vor den Mündungen der spanischen Kanonen.

      »Wenn ich richtig mitgezählt habe, Capitan, dann befanden sich auf der Seite der Waidami siebzehn Schiffe?«

      Jess wandte sich wieder dem Spanier zu. Tirado trommelte nachdenklich auf dem Kartenausschnitt mit dem Barriereriff herum.

      »Aye!«

      »Wisst Ihr, ob dies allesamt Schiffe waren, die auch mit ihren Kapitänen verbunden sind? Oder handelte es sich womöglich um neue Verbündete?«

      »Soweit ich das beurteilen kann, waren es Kapitäne der Waidami. Ich kann mir niemanden vorstellen, der ein Bündnis mit den Waidami eingehen würde. Noch weniger einen Partner, den sich der Oberste Seher an die Seite holen würde.«

      »Woher kommen plötzlich so viele Schiffe? Ich habe noch nie davon gehört, dass mehr als drei oder vier Waidami-Schiffe auf einmal gesichtet worden sind.«

      »Diesmal lag es jedoch in ihrer Absicht, die Silberflotte zu überfallen. Da sie im Besitz der Derroterro waren, kannten sie die Aufstellung der spanischen Schiffe, Señor Gouverneur. Es war damit zu rechnen, dass eine Flotte angreift. Jedoch muss ich gestehen, dass auch ich nicht mit einer derartig hohen Zahl gerechnet habe.«

      Tirado stoppte das Trommeln seiner Finger und hob den Blick. »Ihr sagt dies so, als ob Euch etwas die Zunge beschwert, Ihr aber zu unwillig seid, es auszusprechen, mein Freund.«

      »Sagen wir, ich habe das Gefühl, dass der Ablauf der Schlacht, auch wenn ganz in unserem Sinne, doch zu einfach war.«

      »Was veranlasst Euch zu diesem Gedanken? Euer Plan, die Männer unter Deck hinter den Silberbarren zu verbergen war überzeugend. Die Strömungen der Soldaten konnten so nicht von ihnen ausgemacht werden. Das Überraschungsmoment lag damit auf Eurer Seite. Also, was ist es, das Euch zweifeln lässt?«

      »Die spanische Flotte war in der Überzahl, aber der Großteil bestand auch aus schwerfälligen Schatzschiffen, die im Kampf leicht auszumanövrieren sind. Die Kapitäne der Waidami sind Euren Kapitänen weit überlegen. Verzeiht meine Ehrlichkeit, Señor Gouverneur. Aber in Anbetracht der Anzahl der Waidami-Schiffe bin ich ehrlich überrascht, dass mein Plan aufgegangen ist.«

      »Ihr wollt also andeuten, dass wir diese Schlacht gewonnen haben, weil wir sie gewinnen sollten. Ist es das?«

      »Möglicherweise.« Er wusste selbst, wie verrückt das klang. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sich etwas über ihnen zusammenbraute, mit dem niemand von ihnen rechnete.

      Tirado atmete tief ein. Langsam stand er auf, trat um den Tisch herum und stellte sich neben Jess. Sein Blick wanderte über die Schiffe,